Corona: Die Falle der der Globalisierung schnappt zu

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Ganz offensichtlich muss man sich nun ernsthaft auf die Seuche einrichten, sich in ihr einrichten. Die einen hamstern und erwerben überdimensionierte Ballen dreilagigen Klopapiers, andere decken sich mit papierenem Lesefutter ein. Trost in der unfreiwilligen Isolationshaft, der soziokulturellen Auszeit, die Corona ganzen Landstrichen, ja, Ländern beschert.
Schnell sind findige Geister aus der Buchbranche auf den Trichter gekommen: Keine Messen, Lesungen und Events mehr – man empfiehlt: Lesen. Einfach so. Allein. Jeder für sich. Zugegeben ein nahezu barbarischer Asketismus. Ein „Mensch-werde-wesentlich“ Menetekel. Ein Zumutung.
Doch siehe da, immer mehr entdecken den neuen Reiz des kontemplativen Lebens-Lesens im kulturellen Homeoffice. Man igelt sich behaglich ein und erliegt peu à peu den reizvollen biologisch-erotischen Abgründigkeiten der Kontamination: sei es in Boccaccios „Decamerone“, wo es in den Tagen der „Isolationshaft“ vor den Toren von Florenz um nichts anderes als um Tabubrüche, Ausschweifungen und subversive Dammbrüche geht.
Sei es in Marquez‘ phantasieberstendem Kosmos grotesker Liebesabenteuer unter epidemischen Vorzeichen. Vergleichsweise nüchtern dagegen liest sich „Die Pest“ von Albert Camus. Angenehm unpathetisch und schnörkellos: man bleibt und tut sein Mögliches – ohne viel Brimborium. Dr. Rieux ist so stoisch und pragmatisch   wie heutzutage  eine Kassierin im Supermarkt. 
In der Tat, viele der Strukturen und Mechanismen, mit dem Phänomen einer Pandemie oder auch Epidemie umzugehen, kommen uns bei der Lektüre  in Anbetracht der gegenwärtigen Erfahrungen merkwürdig vertraut vor. Die lange mentale Inkubationszeit, bis man schlussendlich bereit ist, das Faktum zu akzeptieren, es zu benennen. Die sukzessive Ausweitung der Kampf- und Bekämpfungszone. Die ultimo ratio der Absperrung und Isolation der ganzen Stadt. Die allmähliche Vergesellschaftung der Krankheit, schließlich die schockhafte Erkenntnis, in der Falle zu sitzen: „Man kann wohl sagen, daß von diesem Moment an die Pest uns alle betraf.“
Und, so fügt der Erzähler hinzu, ein sehr spezielles Gefühl vermittelt, das des „Exils“. Eine paradoxe Erfahrung. Nicht ein Aus- oder Aufbruch, vielmehr die Inklusion, die Abriegelung generiert eine „Exilsituation“, nämlich das Gefühl, schlagartig von allen vertrauten Bezügen abgeschnitten zu sein. Mithin in einem Maße allein auf sich selbst gestellt zu sein, wie man dies aus dem alltäglichen Dasein nicht kennt.
Und doch sind es nicht nur strukturelle Gemeinsamkeiten, die uns mit diesem Werk aus dem Jahr 1947 verbinden. Es gibt auch gravierende , nicht weniger aufschlußreich Unterschiede. Zum einen fällt auf, dass wir uns zwischenzeitlich offenbar gänzlich von einer theologischen Deutung des Epidemischen verabschiedet haben: Das altvertraute  religiöse Vokabular von „Schuld“, „Strafe“, „Sühne“ etcetera wird 2020 nicht mehr aktiviert. Ein bemerkenswerter Vorgang, bedenkt man, das man seinerzeit in Oran den Dom noch mit Bußpredigten bis auf den letzten Platz füllen konnte.
Noch etwas anderes, nicht weniger Gravierendes fällt zwischen Virus 47 und Virus 20 auf: Die Falle der Globalisierung ist erst jetzt zugefallen. Oran geschlossene Stadt – das kümmerte nur wenige, vielleicht 50-, 60 000 Leute. Dass eine lokale Ansteckungskrankheit innerhalb weniger Wochen weltweite Erschütterungen bis hin zu den Börsen erzeugt, war seinerzeit auch nicht ansatzweise erkennbar. Freilich hatte man damals die Entscheidungen über Prozesse und Verläufe des Welthandels auch noch nicht fahrlässigerweise künstlichen Intelligenzbestien anvertraut, die neuerdings serienweise unsere Ängste hochrechnen und unsere verdeckten Ängste exponentiell vergrößern.
Parallel zur faktischen „Grippe“, die uns gegenwärtig heimsucht, gehen auch die künstlich erzeugten Ängste regelrecht „viral“ und verwandeln uns in verunsicherte, hamsternde Follower einer unsichtbaren Macht des Schicksals , die unser Heiligstes, den Dax gnadenlos nach untern zieht.