Händel: Orlando (Oper Frankfurt)

Zanda Švēde (Orlando; in heller Kleidung) mit Tänzer*innen. © Oper Frankfurt

Wenn es doch immer so schön und einfach zuginge wie in der Oper. Rasend vor Wut und Eifersucht ersticht der enttäuschte Liebhaber erst den Rivalen, dann die untreue Geliebte. 

Als er dann – entsetzt über die schrecklich Tat – im Begriff ist, Hand an sich selbst zu legen, kommt der wundertätige Herrscher Zoroaster auf die Bühne und erklärt: Das alles war nur ein kleines Experiment, inszeniert vom  „Spielleiter“ – um seinem liebestrunkenen Helden den Irrwitz seiner amourösen Verstrickungen vor Augen zu führen …

Und schon springen die vermeintlichen Opfer auf, erkennt der Held seinen Wahnsinn und  alle stimmen einen kleinen Triumphgesang auf die wieder- errungene Vernunft an. 


Die Wirklichkeit, auch die Wirklichkeit dieser brillanten Frankfurter Inszenierung sieht anders, sehr viel ambivalenter aus, obwohl die Handlung – nimmt man den ganzen mythologisch-phantastischen  Bombast der Vorlage Lodovico Ariosts und des Librettos   weg – einigermaßen platt  ist.  Da erscheinen zwar christliche und heidnische Könige und Ritter, schöne, teilweise auch kämpfende Damen, Zauberer und Zauberinnen und Fabeltiere. Doch im Kern verbirgt sich hinter dem pittoresken Gewimmel um jede Menge Liebeswirren und Enttäuschungen doch nur eine Geschichte, die man mit Heinrich Heine auf die schlichte Formel bringen könnte: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen. Die hat einen Andern erwählt. Der Andre liebt eine Andre, und hat sich mit dieser vermählt“. 

Freilich:  die Art und Weise, wie der amerikanische Regisseur Ted Huffman und sein musikalischer Leiter Simone di Felice mit diesen „an sich“ banalen Gefühlswirren umgeht, ist frappierend und mitreißend. Vor allem auch,  weil es der puristischen Inszenierung gelingt, Händels musikalische Innovationskraft, sein Faible für dramatische Ambivalenzen und Extremsituationen, sein virtuoses Changieren zwischen Tragik und Groteske markant in den Vordergrund zu rücken. Die Untiefen menschlicher Gefühle, ihr lustvolles Außer-Kontrolle-Geraten, ihre Verkapselung in sich selbst, ihr tiefes Verstehen, ihr abgrundtiefes Sich-Missverstehen: All dies drückt hier die Musik und weit weniger der Text des Librettos aus. 

Der Frankfurter Orlando überzeugt freilich nicht nur wegen seiner musikalischen Sensibilität, sondern auch aufgrund der konzeptionellen Geschlossenheit auf allen Ebenen: Von den herausragenden Sängern und Sängerinnen (v.a. Monika Buczkowska als Dorinda), bis hin zum Bühnenbild, das hier außergewöhnlich aktiv mitspielt. Immer wenn die Figuren in den Irrwegen der Leidenschaft jede Orientierung zu verlieren drohen, setzt sich auch das auf der Bühne aufgebaute Drehkreuz mit Wänden aus flatternder Tuchbespannung in rasend kreisende Bewegung: In dem Maße, wie die emotionale Orientierungslosigkeit der Figuren unfassbar wird, löst sich vor den Augen des Publikums auch der Raum auf. Er scheint sich ins Grenzlose zu erweitern, wild wechselnde Bildprojektionen sind ebenso schön wie irritierend – und ja: bedrohlich. Denn die Zuschauer erleben optisch die Auflösung des bisher als bekannt/vertraut geltenden Spiel- und damit Lebens-Raumes. So erfahren auch sie geradezu körperlich, was die von Gefühlen erfassten, überwältigten Figuren umtreibt. Dazu kommen die Schattenrisse der Tänzer, die die jeweiligen Situationen und Gemütszustände der Protagonisten kontrapunktisch begleiten und wortlos kommentieren.

vorne Monika Buczkowska (Dorinda) und hinter der Gaze Tänzer*innen. © Oper Frankfurt
vorne Monika Buczkowska (Dorinda) und hinter der Gaze Tänzer*innen. © Oper Frankfurt

Wenn schlussendlich durch Zoroastro der Bann dieses drastischen Menschenexperiments wieder gebrochen wird, nach dem Motto “es war nur ein Experiment“, löst sich dennoch nicht alles in Wohlgefallen auf. Zwar stehen Orlandos Opfer wieder von den Toten auf als wäre nichts geschehen, und der paranoide Rausch des Begehrens des Helden scheint fürs erste gestillt. Dennoch ahnt man –  die dunklen Spukgestalten, die die Figuren umgaukeln und umschweben deuten das an –, dass dies nur auf der Oberfläche als ein Happy End zu sehen ist. Die Verwundungen und Verstörungen der traumatisierten und verquälten Seelen werden im Untergrund und im Inneren weiter ihr Unwesen treiben – und dadurch manipulierbar bleiben.

Cornelie Ueding