In Sachen grotesker Überzeichnungen , absurder Albträume , klaustrophobisch düsterer Schräglagen und aufgedrehtem Horrorklamauk ist der ungarische Regisseur Victor Bodó wahrhaft einschlägig erfahren. Mit Kafkas Fragment gebliebenem Roman Amerika/Der Verschollene hat er eine für ihn ideale Spielwiese gefunden, die er vom ersten Moment an auch genüßlich ausspielt. Wobei der Genuss freilich mehr auf Seiten der Regie , als der des Publikums liegt .
Nicht, dass es an schrägen Momenten fehlen würde. Wulstig auswattierte Dickbäuche und klischeehaft ausstaffierte Gangster , Halbweltdamen und Bedienstete bevölkern die Bühne in Scharen Dennoch will sich keine rechte Spannung einstellen, was mit Sicherheit an einer in ihre eigenen Inventionen verliebten Regie liegt. Wenn von Beginn an praktisch jede der Figuren um den Verschollenen , den jungen Karl Rossmann, permanent in spastische Zuckungen, jämmerliche Erstarrung oder grimassierende Verrenkungen verfällt , beginnt das nach spätestens einer Stunde schlicht zu langweilen. So reiht sich slapstick an slapstick und die verstörende Irrfahrt des Protagonisten gerät mehr und mehr zur Nebensache.
Kafka selbst schildert mit akribischer, bewußt umständlicher Genauigkeit die allmähliche Verunsicherung des gutwilligen, schlaksigen jungen Mannes, der sich langsam mehr und mehr in den tückischen aber jeweils sehr plausibel wirkenden Maschen des ihm fremden Systems verfängt. In Stuttgart wird daraus eine eindimensionale Abfolge von Tiefschlägen, die wie aus dem Nichts auf den armen Karl einprasseln . Der Clou, dass da einer immer wieder sein Menschenmögliches versucht , um sich doch irgendwie gegen die krude Realität zu behaupten, geht dadurch verloren . Aus einem stoischen Idealisten wird ein törichter Blindgänger.
Immer wieder gibt es Momente, in denen aufscheint, was Bodó aus dem Stoff hätte machen können. Etwa wenn die Verschwörung der Angestellten im Hotel „Occidental“ eine so gespenstische Dynamik annimmt, dass Karl sich im Reigen der Doppelgänger in gleicher Kostümierung nahezu zu verlieren droht.
Doch leider bleibt es bei einer Addition derartiger Momente und die mehr als zwei Stunden dehnen sich zu einem fast beliebigen Neben- und Nacheinander von monströsen Torturen.
Schlimmer als dieses existentielle Manko ist der damit einhergehende Verlust an politischer Aussage. Die niedliche Klimbimschau nimmt dem brandaktuellen Stück über Exilerfahrung, Migration und Suche nach neuer Identität genau diesen aktuellen Bezug. Noch nicht einmal die fragwürdige Schlussutopie des „Naturtheaters von Oklahoma“ , gibt dem Stück jene Wende, die ihm Leben einhauchen könnte. Am Ende (wie bereits zu Beginn) landet man vor einer Registratur: Name , Vorname, Beruf….
So versickert die Aufführung eher als dass sie pointiert endet. Erstaunlich – und sehr bedauerlich – in Anbetracht der Tatsache, dass Kafkas „Amerika“ ja vermutlich aus genau den Gründen politischer Aktualität gerade jetzt auf die Bühne gebracht wurde.
Geisterstunde nach der Schlacht. Zu Beginn erscheint alles wie in Zeitlupe: die Figuren bewegen sich wie in Trance, in erstarrten ritualisierten Bewegungen durch anonyme Räume. Räume der besonderen Art – eigentlich nur eine schmale Spur, ein fast unentrinnbares Nebeneinander gleitender, nach vorn offener karg ausgestatteter Zellen, auf der sich „das Handeln“ aller Figuren bewegt- eine Art Gefangenschaft in der jeweils eigenen Perspektive Eine ebenso seltene wie einleuchtende Übersetzung dessen, was man historische Notwendigkeit, ja: Schicksal nennt.
Denn ob Kampf oder Sieg – der Spielraum ist und bleibt buchstäblich schmal Das Aufeinandertreffen mit Feinden geschieht geradezu zwangsläufig: ob die hintere Begrenzung nun eine Wand mit oder ohne Tür ist. Jeder/jede sieht nur Ihren Ausschnitt der Wirklichkeit – Der Überblick über das Ganze fehlt – was in dieser Situation besonders fatal ist, denn jetzt am Ende des militärischen Sieges sind alle apathisch und angespannt zugleich. Sieger wie besiegte, Römer wie Ägypter. Jeder lauert auf den nächsten Schritt des anderen. Cäsar, der schockiert und verwirrt von seinem Triumph apoplektisch zu Boden fällt, der Hofstaat der Besiegten, die nicht wissen, wie sie mit den neuen Machtverhältnissen, besser dem Machtvakuum umgehen sollen. Tolemeo, bisher König von Ägypten versucht sich dem neuen Herrscher opportunistisch anzudienen: in völliger Verkennung der Situation präsentiert er stolz den enthaupteten Rumpf eines römischen Gegenspielers des Cäsar. Doch statt des erhoffen Lob trifft ihn ein Fluch des in diesem Moment patriotisch denkenden Kaisers.
Strategisch wesentlich geschickter geht seine Schwester, Cleopatra vor: als Dienstmädchen verkleidet, versteht sie sie es, geschickt das erotische Interesse des kampferprobten Weltenbeherrschers zu erregen und diesen -innerhalb weniger Szenen- in einen pennälerhaft herumtänzelnden Clown zu verwandeln, der seinen schwärmerischen Liebesfantasien freien Lauf läßt. Einer der wenigen erheiternden Momente in dieser ansonsten strengen, ja gnadenlosen Choreographie der Macht, die sich unter der Regie von Nadja Loschky auf keinen modischen Schnickschnack (Wie etwa Cecilia Bartolis grandioser Salzburger Fehlgriff, die Cleopatra schick auf eine Rakete verfrachtete.) Nichts davon in Frankfurt.
Anstelle aufwändiger technischer Tricks und skurriler Einfälle tritt eine dramaturgisch virtuose Verspiegelung der Verwandlungs- und Zerfallsprozesse der involvierten Figuren. Cleopatra spielt die Verwandlung von der Küchenhilfe zur Königin absolut überzeugend, auch wenn sie nicht viel mehr als einen weißen Schleier braucht, während Cäsar zwischenzeitlich als verliebter „Gockel“ Brilliert und amüsiert.
Die einzige, die sich in diesem antiken Intrigantenstadel nicht verwandelt, ist natürlich die Römerin Cornelia, die all das über sich ergehen lassen muss, was die geschmeidig trickreiche Ägypterin elegant vermeidet. Anders als die wendige Cleopatra läßt sie alle Avancen und Martern an dich abgleiten – auch stimmlich gefasst und ohne falsche Arabesken . Wenn stoische Verzweiflung einen Klang hätte- Ihre Arien, die jeder Lieblichkeit entbehren, wären es. Besonders im Zusammenspiel mit ihren schmächtigen Söhnchen, dem die Rolle des Rächers alles andere als auf den Leib geschrieben ist- im Gegenteil, seinen entscheidenden Schlag gegen den brutalen Tolemeo, der bereits im Begriff ist, seine Mutter zu vergewaltigen, vollzieht er in geliehenen Klamotten, die ihm nur so über die schmalen Glieder schlottern. Mehr noch – nach vollbrachter Rettungstat verfällt er nicht etwa in eine stolze Siegerpose, sondern bricht förmlich zusammen und torkelt orientierungslos durch den Raum. Der großen Tat, die er sich selbst auferlegt hatte, ist er psychisch letztlich noch nicht gewachsen.
Es sind gerade diese Momente, in denen sich Figuren aus der Hülle Ihrer Identität herausschälen und etwas von sich preisgeben, von dem sie selbst nichts wussten. Jede Figur außer der stoischen Cornelie durchlebt diese Momente: Tolmeo, der mehr und mehr zum mörderisch- bedrohlichen Dandy mutiert und seine Opfer mit zynischer Gleichgültigkeit traktiert. Cleopatra, deren routinierte Verführerinnenrolle im Angesicht der Palastrevolte um sie her kollabiert und in existenzielle Panik umschlägt. Und selbst Cäsar, der vom dominanten Heerführer zum „Schutzsuchenden“ wird. Es gehört zu den Qualitäten dieser Aufführung daß diese Auflösungs- oder Verwandlungsprozesse nicht nur verbal behauptet, sondern visuell konkretisiert werden: Alles gleitet kontrastiv wie in einem Dominospiel der Macht fast folgerichtig ineinander und das Fließband der Macht läuft weiter und weiter. Daß selbst der Ehe von Cäsar und Cl. Zu der es zwischen rauchenden Trümmern der zerschossenen Geisterstadt kein Glück auf Dauer beschieden sein wird, ahnt jeder in dieser brillant gedachten und gemachten Inszenierung spontan.
Copyright: Staatsoper Stuttgart. DON CARLOS: Olga Busuioc (Elisabeth von Valois), David Junghoon Kim (Don Carlos), Staatsopernchor; 2024
Kettenreaktionen des Grauens – so könnte man den Verlauf dieser ebenso wuchtigen wie zerstörerischen Verdi-Oper umschreiben. Und in dieses Mahlwerk, diese tödliche Mechanik der Macht gerät ausgerechnet einer wie der junge Don Carlos: Gutwillig, unerfahren, voller Sehnsucht nach echten Gefühlen und großer Liebe. Unterjocht von einem „Vater“, gegen den Kafkas sehr dominanter Vater harmlos erscheint. Herrscher über das größte Imperium seiner Zeit – regiert von einem straff und rücksichtslos geführten Regime, das keinen Widerspruch, keine Toleranz, keine noch so geringen Freiheitsrechte kennt.
Alles beginnt mit der Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen. Don Carlos verliebt sich jedoch ausgerechnet in jene französische Prinzessin, die sein Vater wenig später zur Frau nehmen wird. Die angebetete Geliebte wird dadurch im Handumdrehen zu seiner „Mutter“. Jeder weitere Annäherungsversuch zu einem Staatsverbrechen. Traumatischer kann man sich den Anfang einer jungen Liebe kaum vorstellen. Als dann noch sein Jugendfreund, der kampferprobte, idealistisch gesonnene Marquis Posa dazustößt, bekommt die ohnehin mehr als angespannte Situation eine brandgefährliche politische Dimension. Rebellion gegen das gesamte, fanatisch katholische Herrschaftssystem steht im Raum.
Und nun beginnt das Räderwerk der Macht sich zu drehen – konkret: Die gewaltigen schwarzen Wände des Bühnenraums, halb Seziermesser, halb Guillotine, kommen in bedrohliche Bewegung und die Menschen, die dazwischengeraten, voneinander abzuschneiden oder verschwinden zu lassen. Innerhalb kurzer Zeit geraten alle Figuren buchstäblich an Rand ihrer Möglichkeiten: Don Carlos geistert an glatten Wänden entlang und wird mehr und mehr zum Zuschauer seiner eigenen Geschichte. Marquis Posa dringt kühn in das innere Zentrum der Macht vor, kippt um und wird zu einer Art königlichem Spitzel. Elisabeth, die einstige Geliebte des jungen Don Carlos, wird vom System der Macht einfach entmündigt und kurzerhand absorbiert, verschluckt.
Doch auch die Mächtigen selbst bleiben in Lotte de Beer‘s genialer Regie vom Mahlwerk Macht nicht verschont: besonders der mächtigste Mann der Welt, Philipp II., der im Verlauf der Handlung zu einem Häufchen misstrauischem Elend verfällt: Opfer des rigorosen Überwachungs- und Bespitzelungssystems, das er selbst aufgebaut hat. Liegt doch über dem gesamten Hof eine Art Generalverdacht – ein kleiner Schritt vom Weg, und man wird eliminiert. Eine Hofdame lässt ihre Herrin, Elisabeth, für einen Moment allein. Der König bemerkt diese „Unachtsamkeit“: Sofortige Verbannung der Täterin ist die Folge. Hinter dieser lähmenden drakonischen Observanz und der Pose des Law and Order Herrschers freilich verbergen sich – für den Zuschauer erkennbar – verleugnete Schwächen und tiefgreifende Unsicherheit.
Lotte de Beer zeigt dies anschaulich durch dezente aber in der Summe unübersehbare körperliche Einbrüche in die starre Oberfläche: erst ein pompöser, bühnensprengender Auftritt und Aufmarsch vor Hof und Volk – dann eine jämmerlich-zerknautschte Schlafzimmerszene in Unterhosen nach dem Motto: „Ach, sie hat mich nie geliebt …“ – abrupt unterbrochen durch den leisen aber verstörenden Auftritt des Großinquisitors, vor dem der mächtige König nicht nur körperlich in die Knie geht. Für die Aussage, dass er auf der Suche nach einem „Menschen“ den Marquis von Posa – in den Augen der Inquisition ein Hochverräter – ins Vertrauen zog, hat der mächtige Inquisitor nur kalte Verachtung übrig. Ein König hat sich keine „menschlichen“ Schwächen zu leisten.
Allmählich, ein genialer Regietrick, erlischt jede Helligkeit und jegliche Aktivität, ja: die Oper selbst verdämmert im Dunkel. Dagegen können auch die weißen Kleidchen der fröhlich tanzenden Kinder nichts, die zu Beginn des 2. Akts den unglücklich und unnütz herumschleichenden Don Carlos umhüpfen und bespielen. Wenig später werden sich die Unschuldslämmer als eifrige Helfer der Inquisition erweisen – und die lieben Kleinen üben diese Rolle schon mal am Beispiel der Verbrennung einer Puppe spielerisch ein. In dieser Phase wagt das Orchester eine Art vorweggenommenen Ausflug in eine schmerzhaft grundierte Atonalität, die so gar nicht zu den schmelzenden Arien und Duetten passt, den alle Akteure mit großer Bravour anrührend präsentieren.
Vielleicht wirken diese Arien, etwa die verzweifelt letzte Arie der Elisabeth, auch deshalb so stark, weil die stimmliche und melodische Brillanz der Musik auf eine abgrundtief zerstörerische und zerstörte Situation trifft.
Alle Beteiligten sind nur mehr Schatten ihrer selbst. Und der Tod ist längst zu einer ersehnten Gewissheit geworden. Marquis Posa fällt durch einen Genickschuss. Sein vermeintliches Opfer für den Prinzen erscheint in Anbetracht des desolaten und desillusionierten Zustands alles Akteure ebenso sinnlosCA wie das Bemühen um Haltung, das Elisabeth und Carlos – beide nun strikt auf Abstand – zu zeigen versuchen.
Denn am Ende werden – folgerichtig möchte man fast sagen – die letzten Reste des Widerstands von den Schwarzen Schergen und den nun gar nicht mehr fröhlichen Kindern kurz und schmerzhaft massakriert. Das Experiment Gedankenfreiheit für Flandern ist gescheitert – nicht grandios, sondern erbärmlich. Die Eindimensionalität der jeweiligen Vorhaben/ Pläne/ Ideen/ Handlungsbereiche der Männer UND Frauen lässt es nicht zu, dass die Figuren, wenn sie in einem Bereich scheitern, andere Wege suchen.
Bessere Zeiten werden als aufs Jenseits verschoben – in allen Bereichen und permanent. Auf Erden herrscht der Inquisitor!! Auf der Bühne eine Art blinder Intrigenmechanik. Hochaktuell also war – und ist! – diese wieder aufgenommene, inzwischen fünf Jahre alte Inszenierung, jetzt unter der musikalischen Leitung von Valerio Galli.
Und durchaus auch ein aktueller Weck-Ruf! Schon das (im Programmheft abgedruckte) Gespräch mit der Regisseurin thematisiert, dass die Figuren nicht mit Macht umgehen können, betont die Gängelung von oben: Carlos vom Vater, dieser vom Großinquisitor – die mutig von Marquis Posa geforderte „Gedankenfreiheit“ bleibt pure Illusion: Buchstäblich alle unterliegen dem Gesetz einer Fremdsteuerung, die jede Eigeninitiative kontaminiert und damit aller Versuche eines Aufbegehrens, etwa nach der Wegnahme der Braut von Don Carlos durch seinen Vater buchstäblich ins Leere einer öden Bühne laufen läßt. Trotz – oder gerade wegen dieser kompromisslosen Tristesse ein erhellender Abend, weil er zeigt, wie stark die Kräfte der kollektiven Vereinnahmung auf jeden einzelnen wirken.
Es gibt Werke, die nach Aktualisierung schreien. Die man regelrecht ins Hier und Jetzt zerren muss. Andere wie Fidelio sind so brandaktuell geblieben, dass sie uns förmlich anspringen, auch wenn sie 200 Jahre alt sind. Und es gibt Inszenierungen mit so kurzer Halbwertzeit, dass man ihnen ansieht, dass sie schnell gealtert und in die Jahre gekommen sind. Und dann wieder solche, wie die von Calixto Bieito, denen man ihr Alter von mehr als 10 Jahren nicht nur nicht ansieht, sondern die geradezu auf das aktuelle Tagesgeschehen ausgerichtet zu sein scheinen.
Der Münchner Fidelio vereinigt beiden Qualitäten in überraschender, vielleicht sogar bestürzender Weise. Spätestens wenn der als zynisch lässiger Moderator auftretende Minister am Ende fast beiläufig den Häftling Floristan erst niederschießt, wenig später gönnerhaft spielerhaft feiert, kommt man auch ganz ohne ‚„aktualisierende“ Krücken nicht umhin, an den skrupellosen Umgang mit politischen Gefangenen heutzutage zu denken, gleich ob sie Nawalny oder Assange heißen.
All diese politischen Bezüge stellen sich assoziativ ein, obwohl, vielleicht gerade weil es sich um eine Art der Regie handelt, der nichts plakativ Politisches anhaftet, sondern die von hoher ästhetischen Verfremdungskraft getragen ist. Allein durch das zugleich feingliedrige wie bedrohliche Bühnenbild (Rebecca Ringst) gerät der Zuschauer vom ersten Moment an in den Bann eines ebenso düsteren wie technokratisch kalten Hochsicherheitstrakts. Dreidimensionale turmhohe, labyrinthisch verschlungene Stahlgerüste lassen dem Einzelnen, dem Individuum, das in diese tödliche Strafmaschinerie gerät, keine Chance.
Und alle, dies zeigt Bieito in beklemmender Art und Weise, sind hier gleichermaßen Opfer eines perfekten, perfiden Strafsystems. Nicht nur Fidelio. Auch seine Retterin Leonore, das Personal und die Familie der Wachmannschaft, der racheglühende und bosheitsprühende Pizarro und auch der alle Verstrickungen lösende Minister werden letztlich zu Agenten und Akteuren dieser stählernen unentrinnbaren Strafkolonie. Aus dem sich alle, ständig kletternd, klimmend, sich in schwindelerregende Höhe katapultierend, Salti-schlagend zu befreien versuchen, um sich wenig später wieder von der Gravitation der Gewalt eingeholt und eingesperrt zu finden. Selbst Teile des Orchesters spielen in Käfige verfrachtet ihr tristes Requiem zu Ende.
Dabei könnte der „Fidelio“ ja eigentlich eine der wenigen Opern sein, die – in dieser Hinsicht nur mit der „Zauberflöte“ zu vergleichen – in einem grandiosen Triumph der „Guten“ endet. Enden könnte. Wäre da nicht das eiserne System, die stählerne Klammer der Unterdrückung, die eine Befreiung letztlich unmöglich macht. So stehen die Liebenden am Ende eher wie örtlich Betäubte nebeneinander – von Seligkeit kaum eine Spur. Und wenn dann der Minister, eine Mischung aus Clown und Todesengel, von der Loge herab auf die Bühne kommt, kollabiert die Feierstimmung endgültig. Das Dirigat von Constantin Trinks passt sich diesen Stimmungsabbrüchen präzise an, alle pathetischen Aufwallungen brechen nach kurzen Momenten in sich zusammen und unterstreichen, dass man aus diesem Gefängnis niemals wird entweichen können.
Katzenjammer und Traumatisierung statt jubelnder Extase. Von wegen : „es sucht der Bruder seine Brüder“ – Bieito entlarvt die Doppelbödigkeit und Verlogenheit dieser aufgesetzten Glückshysterie (in der mittlerweile fast fünfzehn Jahre „alten“ und bestürzend aktuell gebliebenen Inszenierung) aufs radikalste. Und dieser Durchblick führt paradoxerweise nicht zu einer allgemeinen Frustration, sondern, im Gegenteil, zu einer gewissen Lust an kritischem Erkennen und Durchschauen der vergitterten Fassadenwirklichkeit. Ein durchaus ästhetisches Vergnügen – am schönen Schein wie auch am Zerplatzen der Illusion.
Paula Skorupa (Eva), oben: Camille Dombrowsky (Libby), Max Braun (Live-Musik), Foto: Katrin Ribbe
Wohlwollender und dankbarer Gesinnungsapplaus belohnte zu recht diese überaus präzise platzierte Uraufführung zum Thema des immerwährenden Krieges zwischen den Palästinensern und Israel. Altmeister Sobols großer Roman aus dem Jahr 2021 diente dabei als Vorlage für ein auf gut zwei Stunden zusammengestutzes Theaterstück. Eine Verschlankungskur, diediesem Werk nicht gut getan hat. Im Roman verwebt Joshua Sobol die Lebensfäden von zwei Dutzend Personen, die einander brauchen, sich betrügen und belügen. Ungeschützt lässt er die Figurenin witzigen, sarkastischen Dialogen aufeinander los und verschränkt dabei die Vergangenheit der 20er, 30er Jahre mit der Gegenwart. Abgebrüht und egomanisch, rücksichtslos und skrupellos sind sie fast alle. Es macht großen Spaß, ihrem Witz und ihrer Vitalität im Roman zu folgen und en passant eine ganze Lektion in Sachen Geschichte des Landes Israel zu lernen. Anders im Theaterstück, wo genauso dieser Witz nur mehr in Spurenelementen vorhanden ist, dafür eine Art Repertorium vom Zionismus bis zum Holocaust auf dem Lehrplan steht. In der Tat muten manche Dialogpassagen wie Teile eines Lehrstücks an. Da nutzt es nichts, wenn man wie die quirlige Hauptfigur Libby ständig den blonden Haarschopf zerwühlt oder wie die militante Tänzerin Ewa minutenlang in rhythmische Zuckungen verfällt: Im wesentlichen lässt das Stück den Betrachter so kalt wie Brecht sich das nur hätte wünschen können, obwohl die Grundidee wirklich spannend sein hätte können. Libbys Lektüre des Tagebuchs ihrer Urgroßmutter wird zum Eyeopener für ihr eigenes Leben — aber die doppelgängerische Verwandlung in ein alter ego bleibt bloße Behauptung: Das Gespräch der ehemaligen israelischen Spezialistin für Verhöre Libby mit einem zu Unrecht verdächtigten palästinensischen Studenten mutiert zu einer Arakademischem Gedankenaustausch über pro und contra Israel. Innerhalb weniger Minuten verwandelt sich die hartgesottene Inquisitorin in eine nachdenkliche, sichtlich angefasste Zivilistin, die folgerichtig spontan den Militärdienst quittiert und sich auf historische Spurensuche begibt: Sie nistet sich im Dachboden ihrer Urgroßmutter Eva ein, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina gekommen war, durchstöbert deren Tagebücher und entdeckt eine mutige damals sehr junge Frau. Die eine Ausbildung zur Tänzerin ausgerechnet im präfaschistischen Berlin absolvierte. Spät aber gerade noch rechtzeitig durchschaut sie den Schwindel und den sich anbahnenden Antisemitismus und erteilt vor ihrer Rückreise ihren wohlsituierten Eltern eine reichlich klischeehafte Privatstunde in Sachen Bestialität der Faschisten – was sie aber nicht hindert, sich erstaunlich lange in Berlin mit einem Nazi einzulassen. Nach Israel zurückkehrt wird aus der Künstlerin eine Kämpferin, während Libby – ganz im Banne der großmütterlichen Vita – gleichsam in ihrem mentalen Windschatten, weiter und weiter recherchiert: bis Ihr schnoddriger jüdischer Großvater, der sich als lässiger Biker gibt, seine früheren Untaten im Krieg gegen die Palästinenser gestehen muss – und mehr noch: an den „Tatort“ geführt wird, um dort noch einmal das palästinensische Mädchen, das er damals verriet zu treffen. Am Ende dieses modellhaften Aufarbeitungsprozesses stehen sich zwei verdatterte Ruinen einer versäumten Liebe – sie deportierte Palästinenserin, er Jude und Deporteur – fremd und in die Jahre gekommen, zärtlich und leicht sentimental gegenüber. Zugegeben, es ist nicht einfach einen solch gewichtigen Roman auf einen Theaterabend herunterzukürzen. Aber wenn alles, was die Figuren und Situationen interessant und doppeldeutig machen könnte, wegfällt, der schwarze Humor, der im Roman die Gefühle der Figuren grundiert erlischt, erlischt damit einfach auch das Interesse und das Ganze wird recht blutleer. Und dies bei einem Stück, in dem so viel sinnlos vergossenes Blut fließt… Ein Verlust, der nicht zu Lasten der extrem engagiert agierenden SchauspielerInnen geht, sondern auf das Konto der schwachen und einfallslosen Regie von Stephan Kimmig. Am Ende dieser Weltkriege-Erfahrungen (besonders im zweiten Teil des Abends) stehen nur noch nichtssagende, plakative Fertigdialoge. Die sind so steril wiedas gigantische moderne Beton-Gebäude auf der Bühne: Kein Lebensraum, keine Behausung – nur gewaltig drehend, bedeutungsvoll verlangsamt und die wechselnden Einblicke bleiben gleichfalls nichtssagend. Ergriffen vom Thema achtete das Premierenpublikum möglicherweise nicht auf derartige Defizite. Und um der Sache willen mag es damit sein Bewenden haben. Zu weiterer Kritik ist die derzeitige politische Situation zu prekär. Cornelie Ueding
Dunkles, gruftartige Gewölbe , Game of Thrones-artig kostümierte Figuren, sehr viel blitzende Schwerter, sehr viel flackerndes Feuer. Mittelalterliche Gesamtatmosphäre. Man kann der Regie nicht vorwerfen, sie hätte auf Aktualisierung, Modernisierung gesetzt, um die krude Geschichte um den gefürchteten persischen Gewaltherrscher Cosroe eingängiger zu machen. Nach einer blutigen Schlacht, die ihm beachtlichen Macht- und Landgewinn einbringt, sieht der König die Zeit gekommen, seine Thronfolge zu regeln. Ein schier hoffnungsloses Unterfangen in dieser ganz besonderen Familienbande. Es könnte nicht schlimmer sein: keiner traut keinem in dieser Familie. Denn es geht in dieser leider viel zu selten gespielten Oper letztlich nur um eines: um Macht. Genauer: um den Fluch der Macht. Als erstes begeht Cosroe einen entscheidenden Fehler: Er setzt auf den falschen Sohn, misstraut dem loyalen Siroe und begünstigt den tückischen, ehrgeizigen Medarse.
Aus dieser Fehlentscheidung entwickelt sich eine fatale Mechanik der Intrigen, von der keiner und keine verschont bleibt. Auch nicht die Rivalinnen um die Gunst Siroes: Emira, die Tochter des eben vernichteten Feindes, die, in Kampfmontur, den Dolch gezückt, auf Rache sinnt, und die als Sonnenkönigin aufgeputzte Konkubine des Herrschers, Laodice, deren Avancen der standhafte Siroe aber zugunsten der geliebten „Feindin“ Emira zurückweist. Zugleich misslingt sein Versuch, den Vater vor dem geplanten Attentat seiner Geliebten zu warnen, so spektakulär, dass nun er in Verdacht gerät als Hochverräter zu agieren.
Summa Summarum eine albtraumartige Situation: Laodice tiefverletzt und racheglühend. Emira, die er liebt und zugleich daran hindern will, seinen Vater zu töten. Sein ehrgeiziger Bruder, der versucht die Gunst der Stunde zu nutzen und ihn weiter in Misskredit bringt. Und ein aufs Tiefste verletzter, vor Wut schäumender Vater, der sich von allen und vor allem auch von ihm verraten fühlt und nicht zögert, den eigenen Sohn hinrichten zu lassen. Unversöhnliche Liebe und selbstzerstörerischer Hass treiben die Figuren an den Rand des Selbstmordes und der Verzweiflung – ein Affektgemenge, das das innerlich vibrierende Dirigat Attilio Cremonesis in seiner emotionalen Wucht und Verve exzellent zum Ausdruck bringt: geschmeidig und zugleich kraftvoll haucht er Händels Opera Seria eine Energie ein, die 300 Jahre seit der Premiere im Londoner Haymarket Theater vergessen und das Publikum gebannt mitfiebern lassen.
Wenn sich im allerletzten Moment doch noch alles zum Guten wendet, genauer, nur das Schlimmste vermieden wird, will dies keine rechten Glücksgefühle auslösen. Der Raum vibriert noch immer, bebt förmlich nach, und die unaufgelösten Spannungen wirken weiter. Kein rein kulinarischer, eher ein auf erhellende Weise verstörender Festspielauftakt. Regisseur Ulrich Peters sucht und findet überzeugende Bilder, um der enormen Spannung, die auf jeder der Figuren lastet, zum Ausdruck zu bringen. Der verräterische Bruder zerbricht förmlich auf offener Bühne, die enttäuschte Laodice steht am Ende zerfleddert in einer Ecke und die Düsternis der Bühne lässt nicht den Schimmer einer Hoffnung aufkeimen. Allein die Musik, die nuancierte Abstimmung der Countertenöre, der Wettstreit der beiden virtuos rivalisierenden Frauenstimmen und die großartigen Händelsolisten im Orchester, vermitteln so etwas wie ein befreiendes Moment.
Superlative begleiten diese offenbar alle verzaubernde Zauberflöte seit …Jahren: Tourneen durch ganz Deutschland, ja um die halbe Welt. Dieser fantastische Mix aus Comic, Cosmocomic, Stummfilm, digitaler Animation und großer Oper ist ein Unikat – und genau das sollte es auch bleiben. Nicht auszudenken, wenn dieses Kunstprodukt aus dem Ideenlabor Kosky / Andrade flächendeckend in Serie gehen würde. Ohnehin musste eine ganze Reihe von Glücksfällen zusammenkommen, damit dieses Experiment mit Ingredienzien aus unterschiedlichsten Bereichen derart überzeugend gelingen konnten: ein enormes Gefühl für Tempo, Rhythmik und Geschwindigkeit. Gespür dafür, wann und wie man die kleinen Puppen , Püppchen tanzen lässt und die „Leinwand“ dieses imaginierten Stummfilms belebt.
Auch benötigen diese Alchemisten der Plurimedialität neben dem Wissen um technische Finessen einen 7. Sinn für ironische Pointen und für das Konterkarrieren von Ernsthaftigkeit. Einer der Hauptgründe für diesen Megaerfolg aber liegt schlicht und ergreifend in der Vorlage selbst, der „Zauberflöte“, die sich geradezu für einen gewagten artistischen Rettungsversuch dieser Art anbietet. Rettung vor romantisierenden Weichzeichnern, parareligiöser Ernsthaftigkeit oder kindischen Märchenonkelei. All dies hat man bereits Dutzende von Malen gesehen und lässt es mehr oder weniger gleichgültig über sich ergehen. Für eine wirkliche Überraschung war dieses kuriose „Machwerk“ (wie bissige Kritikaster es gelegentlich nannten) längst nicht mehr gut.
Bis…ja bis Kosky/Andrade sich darüber her machten – und dem Stück Beine machten. Von der ersten Minute an – wenn die böse Schlange den unschuldigen Jüngling verfolgt. Was hat man da nicht schon alles vorgeführt bekommen. Plüschtiere, Plastikdrachen, einen Siegfriedverschnitt als Drachentöter. Hier zerfällt Tamino vor Panik in zwei Hälften, ein Teil verharrt erstarrt, eine anderer flüchtet mit panisch strampelnden Beinen. Oder die immer etwas peinliche Szenen mit den drei das Geschehen assistierenden Damen. Hier stehen sie als Säulenheilige gutwilliger Geschwätzigkeit ganz oben auf Podesten und senden allenfalls sentimentale Liebesgrüße an Tamino, das Objekt ihrer Zuwendung. Die Königin der Nacht, üblicherweise muss sie sich ja „dämonisch“ geben, wird hier zur alles überwölbenden Riesenspinne zwischen deren Klauen sich winzige Menschen verfangen und die lähmend bedeutsamen Auftritte der „Isis und Osiris“ Granden lösen sich auf in zylindertragende, schwarze Drohfiguren wie man sie aus dem Stummfilm der 20er Jahre kennt.
A propos Stummfilm: neben den Comics vielleicht die beglückendste Idee, um die Oper von einer ihrer ärgsten Schwächen auf überaus elegante Weise zu befreien – ihren quälend langen hölzernen Rezitativen. Statt ätzenden Witzeleien und bedeutsamen Weisheitslehren nun knappe Zwischentitel in balkendicker Stummfilmkintopp Manier – ein Wundermittel, um der zauberhaften Flöte alles Zaudernde, Retardierende auszutreiben. Mit der Autorin, Regisseurin und Performerin, Suzanne Andrade gründete 2005 gemeinsam mit dem Animationskünstler und Illustrator Paul Barritt und Berrie Kosky hat sich ein Team gefunden, dem es meisterlich gelang, der alten, ein wenig abgehangenen betulichen Märchenoper Flügel zu verleihen und sie in Schwung zu versetzen. Eine neue Leichtigkeit, nach der man sich, dies zeigt die Resonanz der Publikums, offenbar lange sehnte, vielleicht ohne es zu wissen. Witz und Ironie statt Weihrauch und Tiefe: Warum eigentlich nicht?
Copyright: Barbara Aumüller. v.l.n.r. Gerard Schneider (Falsacappa), Elizabeth Reiter (Fiorella), Yves Saelens (Pietro) und Kelsey Lauritano (Fragoletto
Ein verwegener Mix zwischen Can Can, Marschmusik und ausgelassenem Veitstanz: In seinem Spätwerk von 1869 zieht Jacques Offenbach noch einmal alle Register seines überbordenden Könnens. Sein musikalisches Feuerwerk zündet und züngelt nach allen Richtungen, sprüht vor Begeisterung, kokettiert mit dem Absturz und zieht im letzten Moment immer wieder den Kopf aus der Schlinge der Konvention. Eben noch naiv-idyllisierend, imnächsten Moment pathetisch, pompös , dann wieder gekonnt parodistisch,respektlos, mitreißend und schräg. Und die Figuren agieren als seien sie ins Leben übersetzte Musik, ein veritables Intrigenballett. Und an intriganten Elementen herrscht auf freier Banditen-Wildbahn im romantisch wilden Wald an der spanisch-italienischen Grenze, an der das Ganze spielt, nun wirklich kein Mangel. Der Hauptmann der Bande , der verwegene Falsakappa, steht schwer unter Druck, denn die Truppe beginntzu meutern – so hat man sich das Räuberleben nicht vorgestellt. Man wollte mehr Geld und weniger Arbeit. Was man nun hat, ist das genaue Gegenteil: Schufterei für karge Beute. Also muss ein großes Ding her, ein ganz großes. Da trifft es sich gut, dass ihnen ein Jüngelchen vom Rechnungshof über den Weg läuft, einer mit einem Aktenköfferchen voll mit Dokumenten. Eines davon ist für die krisengeschüttelten Gangster von besonderem Interesse. Ein „intereuropäischer“ deal zwischen Spanien und Italien. Für die dynastisch profitable Ehe des Prinzen von Mantua mit der Prinzessin von Granada werden dem Land 2 von 5 Millionen Schulden erlassen. Bleiben 3 Millionen, die am Tag der Verlobung auszuzahlen sind. Eine Summe, die die Gier der Gangster natürlich steigert und zu verwegenen Plänen motiviert.
Um es kurz zu machen: Man kapert das Hotel, in dem die spanische Gesandtschaft nächtigen wird. Empfängt und entwaffnet als Köche und Personal verkleidet die Granden. In deren Kostümen gehts zum italienischen Hof in Mantua um die fällige Restsumme abzukassieren. Ein genialer Plan – der auch beinahe aufgegangen wäre – hätte nicht der mickrige, zerzauste Schatzmeister das ganze Geld – bis auf einen lumpigen Tausender – inzwischen für seine Weibergeschichten verprasst. Und es kommt noch schlimmer: die vorübergehend in den Keller entsorgten Original-Spanier tauchen in Unterwäsche wieder auf und stellen ihre Peiniger.
Denen droht bereits der Strick, bevor ein nicht minder bedröbbelter Graf „Gnade“ gewährt. Wie alles bei 0ffenbach ist auch dieser „Gnadenakt“ zutiefst fragwürdig. Der Aristokrat ist selbst korrupt bis in die Knochen – wie alle am Hofe, die schlüpfrigen Hofdamen inklusive. Wo alles Pseudo ist, hat jede Art von Moral ihre Berechtigung verloren. Wäre da nicht die spontane Liebe zwischen der Räubertochter und dem überfallenen Biobauern, die einen Moment ernsthaften Gefühls aufblitzen lässt – es bliebe nichts. Nichts außer dem sprühenden mitreißenden Witz, der den soeben aufgerissenen Abgrund im Gleichschritt – hoch das Bein und Can Can getanzt – wippend zu überspringen scheint. Sängerisch, musikalisch, stimmlich und choreographisch ein in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk wider allen tierischen Ernst.
Copyright: Barbara Aumüller. Oben v.l.n.r. Guanqun Yu (Aida), Claudia Mahnke (Amneris) und Kihwan Sim (Der König von Ägypten) sowie unten in der Bildmitte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen Nicholas Brownlee (Amonasro), umgeben vom Ensemble
AIDA, das heißt große, ganz große Opernbühne: am besten ganze Arenen, Pferde und Elefanten. AIDA war und ist ein Politikum – Seit je her war das Auftragswerk des Ägyptischen Vizeregenten Ismail Pascha zur Eröffnung des Suezkanals ein nationales Prestigeobjekt: Pomp, Pathos, Patria seine Insignien. Der Name Aida steht synonym für das beste und schlimmste, was man mit dem Begriff „große Oper“ verbindet. Regisseurin Lydia Steier wusste natürlich um diese Hypothek, ebenso wie um Neuenfels` legendäre Frankfurter „ Aida“ von 1981 als es – Aida als Putzfrau – zu einem riesigen Theaterskandal inklusive Bombendrohungen kam. Die vereinzelten Buhrufe am Ende der neuen Frankfurter Aida waren nur mehr ein matter Abglanz der damaligen Erregung. Denn der US-Regisseurin ging es weniger um eine neuerliche Provokation, als um eine neue Sicht auf das martialisch pompöse Geschehen, um Geschichte von unten, will man es auf eine knappe Formel bringen. Ihr Trick dabei: Keine plumpe Aktualisierung. Und auch keine pure Reduktion auf Wohnküchenmilieu – wie so oft.
Copyright: Barbara Aumüller. In der Bildmitte Rücken an Rücken Guanqun Yu (Aida) und Stefano La Colla (Radamès) sowie Ensemble
Sie begnügt sich vielmehr damit, das ganze Geschehen von der Rückseite her in Augenschein zu nehmen. Aida zu Beginn zwar wie bei Neuenfels wieder als Putzfrau, anonym wie die anderen Dienerinnen und Sklavinnen. Radames als eine Art Hausverwalter des etwas in die Jahre gekommenen lichtlosen und ziemlich abgewohnten bunkerartigen „Palasts“. Mehrere Stufen tiefergelegt kommt die äußere wie innere Schäbigkeit des Systems nahezu beklemmend zur Kenntlichkeit. Das ist keine machtvoll auftrumpfende Großmacht, – das sind die Rudimente eines ranzig und mickrig gewordenen, giftigen, korrupten und brutalen Regimes, in dem die Protagonisten mit ihren individuellen Empfindungen letztlich von Beginn an keinen Platz haben. Im Kriegsfall kommt dieses hässliche Fratze der bröckeligen Macht nur noch krasser zum Ausdruck. Als Ägypten zum Kampf gegen den äthiopischen Feind ruft, kommt dies einem
kollektiven Doping gleich. Hochdekorierte wacklige Veteranen mit Sauerstoffgeräten und mit Rollatoren revitalisieren sich schlagartig unter martialischen Klängen und vibrieren und wippen mit, dass die Rollstühle nur so wackeln. Im Nu verwandelt sich nun der Hausmeister Rademes in den Kriegshelden Radames, wird in viel zu große feldherrliche Klamotten gesteckt und von jetzt auf gleich unter Standing ovations der senilen High Society inthronisiert und in den Kampf verabschiedet – sehr zum Leidwesen des Stubenmädchens Aida, einer geraubten äthiopischen Prinzessin, die fatalerweise diesen Feind ihres Volkes liebt. Ebenso wie die Tochter des Pharaos dies tut. Sklavin oder Prinzessin, Äthiopien oder Ägypten? Mehr an Konflikten geht nicht. Doch im Siegestaumel geraten aufgewühlte Arien und herzzerreißende Duette zur Nebensache. Der Hofstaat vibriert, schäkert und verlustiert sich im Freudentaumel, und Amneris, die Pharao-Tochter, sieht sich schon als zukünftige Braut Radames . Doch der siegreiche Kriegsherr Radames, der die Grausamkeit und Schrecken der Kriegs kennen gelernt hat, ist nicht mehr der, der er vielleicht nie war. Abgerissen und mit hängenden Schultern steht er neben der illustren Gesellschaft, die ihn mit Ehrungen überschüttet. Eine Gesellschaft, an die er den Glauben längst verloren hat. Steiers Zugriff gelingt es, die erbärmliche Wirklichkeit hinter den Fassaden der Macht durchschaubar zu machen. Und die Brutalität, mit der man die Showseite im Ernstfall mit Klauen und Zähnen verteidigt. Als er sich zu seiner Liebe zu Aida, der Tochter des Feindes bekennt, spricht er sein Todesurteil. – und die wackligen Honoratioren verwandeln sich in Hardliner einer korrupten Gerechtigkeit. Der Chor in Uniform und Abendrobe wird zum Resonanzkörper dieser patriotischen Empörung. So vehement, dass es selbst der düpierten Amneris zu viel wird. Ganz am Ende scheint sie Rachsucht und Enttäuschung, Wut und Frust von sich zu schütteln und steht fast nackt vor den Trümmern ihrer eigenen Existenz. Der Oberpriester verabreicht ihr dezent eine erlösende Todesspritze. Jener Ramfis, der die ganzen 4 Akte lang, die Inkarnation des schlechten Gewissens, elegant und indifferent im schwarzen Anzug das Geschehen fast sprachlos begleitete. Ein dunkler Schatten, der sich manchmal ob der Lüge dieser kaputten Gesellschaft fast in Lachkrämpfen wand, um im nächsten Moment professionell gute Miene zum bitterbösen Spiel zu machen und energisch für Law and Order zu sorgen. Letztlich überträgt dieser stumme Diener alle unguten Gefühlsschattierungen, die auf der
Bühne stattfinden, und sich auch bei den Zuschauern breit machen mochten. Denn wir erlebten wahrlich keine im üblichen Sinne glanzvolle Aida – Aber eine erhellende: Selbst das Orchester intonierte diesen potentiell rauschenden, bisweilen brachialen Verdi eine Spur weniger auftrumpfend und mitreißend wie üblich. Und der Heldentenor lavierte gekonnt entlang einer hauchdünnen Grenze zwischen Triumph und Ernüchterung. Ein Liebes- und Todesduett am Ende, zwischen zerrütteten und zerstörten Leibern. Beklommenheit statt Liebestränen – diese auf ihre Art geniale Aida verlischt einfach und hinterlässt Spuren. Narben. Fragen.
„In meinem Stück werden nicht die Stände, sondern der Missbrauch jedes Standes angegriffen“, schreibt der Beaumarchais, Autor der Komödie „die Hochzeit des Figaro“ über sein Stück.
Es könnte die Generalformel für dieses herausragenden Frankfurter „Figaro“ sein. Es bedarf Einiges, um aus dieser wahrhaftig bis zum Exzess erfolgreich ausgespielten Oper des Duos Erfolgsduos Mozart /Daponte neue, überraschende Funken zu schlagen. Und Regisseur Tilmann Köhler gelang dieses Kunststück in kongenialem Zusammenspiel mit GMD Thomas Guggeis. Im Grunde greift er die eingangs zitierte Formel auf und verfolgt sie konsequent und virtuos bis in die letzte Konsequenz. Figaro ist hier kein mutiger Vorkämpfer des Guten, der Moral, der Tugend mehr ebensowenig wie Graf Almaviva das übliche – allzu vertraute – Klischee des skrupellosen, aristokratischen Verführers bedient.
Figaro ist zwar noch immer gewitzt und reaktionschnell , doch alles andere als ein erfolgreicher Repräsentant einer bürgerlichen political correctness. Wann immer er denkt, er sei besonders schlau, erweist er sich weit mehr als nur dummschlau und gerät in die Fänge seiner eigenen Falle. Sein Gegenspieler , Graf Almaviva, gibt sich in seinem violetten Outfit zwar apart und siegesgewohnt lässig und dominant- laviert aber haarscharf entlang einer veritablen Blamage, die aus der Pose der Überheblichkeit hilflose Rachefantasien werden läßt.
Doch nicht nur die beiden Protagonisten oszillieren zwischen scheinbarer Überlegenheit und erbärmlicher Hilflosigkeit – das gesamte Personal dieses verrückten Intrigantenkarussells balanciert haarscharf zwischen Pose und Banalität: selbst die Gräfin ist davon nicht ausgenommen. Köstlich, wenn sie die unschuldig tief Gekränkte gibt und die Szene und den Liebesreigen um sie her mit schellen , verschlagenen Blicken amüsiert verfolgt. Ebenso wie die heimliche Heldin, die schlaue Dienerin Susanna, regelmäßig in Situationen gerät, die die Maske der pfiffigen Schlag- und Spielfertigkeit arg in Rutschen bringt und das Spiel ausser Kontrolle geraten läßt.
Seit Schiller weiß man zwar: der Mensch ist nur da Mensch wo er spielt und er spielt nur da, wo er Mensch ist – Aber in diesem Figaro kann er erleben, daß das Spiel mit dem schönen Schein bisweilen eine Eigendynamik entwickeln kann, die die Akteure geradezu vor sich hertreibt und aus der Bahn wirft. Der Grund für diesen Kontrollverlust ist relativ klar, denn man soll eben nur mit dem Spiel spielen und man soll mit ihm auch nur spielen. Verstößt man gegen diese Regel entgleitet den Betroffenen sowohl das Spiel wie auch die Wirklichkeit.
Und genau dies passiert hier. Existenzielle Probleme, moralische Prinzipien, Starke Gefühle lassen sich nur bedingt mit spielerischen Mitteln lösen: Das virtuose Team um die Frankfurter „Spielleitung“ führt genau diesen Effekt aus unangestrengt leichte, fast tänzerisch anmutende und höchst an-mutige Art und Weise vor. Immerhin , wir sind mitten im vorrevolutionären 18. Jahrhundert und diesen ganz besonderen Konversationsstil zwischen gespielter Ernsthaftigkeit , gekonnter Schauspielerei und vieler kleiner und größerer Lügen gewohnt. Lügen, von denen auch jeder augenzwinkernd weiß, daß es Lügen sind …
Deshalb ist es gut, daß die Regie gar nicht erst versucht, diesem Spiel um Liebe und Rache einen ganz ernsthaften Boden zu beben, sondern alles , auch die Momente der Versöhnung in der Schwebe läßt. Ebenso wie es gut und richtig ist, sich nicht im mehr oder weniger lockeren Getändel zu verlieren und auf groupiehafte Heiterkeit zu setzen. Es mag schwierig erscheinen, diese Balance zu halten. Aber hier gelingt es, wobei stimmlich bewegliche und starke sängerische Momente, ein federnd nuanciertes, auf das Herausmodellieren von Ambivalenzen zielendes Dirigat und ein gleichermaßen stringente und abstrakte Kulisse phantastisch ineinandergreifen: im beweglichen Raster auf- und zuschminkender Türflügel tauchen die Figuren für Momente, die Dauer einer Arie, einer Szene auf, um wenige Momente später wieder zwischen diesen Wänden, die keine Wände sind, geräuschlos und spurlos zu verschwinden.
Ein virtuoses Vexierspiel permanenter Verwandlungen , die Fragen nach Eindeutigkeit fast als absurd erscheinen läßt: Der große Test auf die Treue des jeweiligen Partners , der Partnerin – wer möchte entscheiden ob er wirklich Ernst gemeint ist? Die finale Versöhnung am Ende – wer würde an sie, in diesem Irrgarten der echten und gespielten Empfindungen so recht glauben. Das Team um Thomas Güggeis und Timo Köhler hat ganz sicher nicht versucht, am Ende großes Erlösungsspektakel zu inszenieren – eher verhalten Freude darüber , daß alles gerade noch einmal halbwegs gut ausgegangen ist.
Und inmitten in dieser sehr menschlichen Menagerie der Doppeldeutigkeiten – gleichsam als Symbolfigur ein im innersten zerrissener sechzehnjäherer erotischen Traumtänzer, Cherubino , der weder so recht weiß wer er ist noch was er mit seinen Gefühlswallungen will, und der dennoch letztlich von allen geliebt wird- freilich in der alt eines libidinösen Kuscheltiers, einer Puppe, mit der man fast nach Belieben spielen kann …