Bild: ©Michael Gaida from Pixabay
Es fällt nicht leicht, ganz ruhig zu bleiben, wenn man in diesen Tagen ununterbrochen mithören muss, dass Journalisten, die von der deutsch-türkischen Grenze berichten, nahezu unablässig davon sprechen, dass die Migranten versuchten, „Europa“ zu erreichen. Über Nacht wurde die griechisch-türkische Grenze zur Außengrenze Europas und derjenige, der sie überwand, war in Europa angekommen. Wo blieben die, die sie nicht überwanden? Im Orient? In einem Niemandsland? In der Türkei, mit der man seit Jahrzehnten über einen möglichen EU-Beitritt verhandelt und mit der man millionenschwere Deals macht? Man kann an dem aktuellen Beispiel erkennen, wie willkürlich gerade das bei genauerem Hinsehen ist, von dem wir oft behaupten, es sei definitiv. In Sonderheit das Phänomen der Grenzziehung . Im aktuellen Fall zieht man einen hochgesicherten Zaun quer durch kulturell Zusammengehöriges, quer durch das bulgarisch-griechisch-türkische Dreiländereck, den europäischen Teil der Türkei – dort wo Okzident und Orient einander berühren. Diese Außengrenze ist nüchtern gesehen ein messerscharfer Schnitt durch eine Zone einer seit Jahrtausenden in wechselnden Konstellationen gelebten Verbundenheit.
Europa, das real existierende, von Menschen unterschiedlichster Herkunft bewohnte, plurikulturelle, zerfranste und aus lauter Überlappungen bestehende wirkliche Europa hat immer weniger mit dem EU-Europa zu tun.
Das EU-Europa ist eine verwaltungstechnische Fiktion.
Das real existierende Europa kannte bereits lange vor Schengen keine Grenzen.
Oder, anders gesagt, Europa, der europäische Geschichts- und Kulturraum Europa endet nicht dort, wo eine mehr oder weniger willkürlich gezogene, meist höchst temporäre Außengrenze vereinbart wurde.
Ganz im Gegenteil: Es unterläuft diese Grenzen, untergräbt sie, ignoriert sie. Galizien, die Bukowina, waren, und der gesamte Balkanraum ist nach wie vor solch ein Vermischungsgebiet: die Donau, die Drina, der Egre sind in Wirklichkeit willkürlich gekappte Lebensadern. Flüsse, ja ganze Meere sind keine Trennungslinien, keine Außengrenzen, sondern verhinderte Verbindungsgeflechte. Wenn EU-Europa genau dort rabiat und mit Waffengewalt dicht macht, wo Europa eigentlich zusammenfließt, oder zusammenfließen könnte, wird es endgültig Schiffbruch erleiden.
Vieles spricht dafür, daß man sich im politischen Bereich genauso weiter verhält wie im Medizinischen: wenn Gefahr droht, macht man die Grenzen dicht. Man sperrt die Fremden aus und holt die Eigenen zurück – ganz gleich, ob es Sinn macht oder nicht. Ganz so, als wollte, als könnte man alle Sünden und Fehler der Globalisierung durch einen einzigen – nachgerade parasakralen Akt, ein Ritual, das Ritual der Exklusion gleichsam wieder rückgängig machen.
Worin diese Fehler bestehen? Genau in jener vermeintlichen Grenzenlosigkeit, die man nun durch forcierte Grenzziehungen und Grenzschließungen hektisch rückzubauen versucht. Was zu Zeiten von Camus` „Die Pest“ noch Sinn gemacht haben mag, das hermetische Schließen der Stadttore, ist mittlerweile zu einer nahezu absurden und etwas hilflosen Geste geworden. So als wollte man sich für eine hybrishafte Grenzüberschreitung im Nachhinein selbst züchtigen.
Der zentrale Denkfehler der letzten Jahre bestand darin, im Rausch der Gewinnoptimierung alle Kulturellen Unterschiede zu leugnen. Man tat so, als seien Differenzen nur mehr ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, als man noch im „Clash of Cultures“-Modus dachte. Seit das Modell des Deals, die tradierte Praxis des Dialogs abgelöst hat , haben wir zudem ohne Not den Spielraum des genuin europäischen Systems preisgegeben – d.h. wir haben unseren Sinn für Abstufungen, Differenzierungen und das Gefühl für Ähnlichkeiten geschwächt. Oder in die Kunst und Kultur ausgelagert.
Dort werden genau jene Grenzen tentativ überschritten, die im Alltag immer straffer gezogen werden, besonders jetzt im Angesicht der Pandemie. Nahezu reflexartig kehren wir zu den alten Mustern zurück und zerlegen unsern Kontinent in seine Bestandteile. Jedes Land , bisweilen mancher Landkreis, schottet sich von seinen Nachbarn ab, und das Bild der europäische Landkarte mitsamt ihren Außengrenzen zerfällt in regionale , nationale Puzzleteile . Wir verhalten uns so , als käme die Bedrohung ausschließlich von Außen. Mehr noch – in überstürzt organisierten Sammelflügen holt man eiligst alle „deutschen Staatsbürger“ zurück, auch solche, die den Infekt in sich tragen – nicht nur aus China, sondern aus ihren z.T. exotischen Urlaubsorten – so als ob, ja was eigentlich? Als ob sie hier auf heimatlichem Boden in Sicherheit wären, und als ob auch wir vor ihnen in Sicherheit wären. Gesunde Migranten bleiben draussen. Möglicherweise kranke Fellow citizens kommen rein. Man kommt nicht umhin, nach psychologischen Gründen für dieses Verhalten zu fragen. Warum versammeln wir wir uns atavistisch um den häuslichen Herd und verscheuchen Fremde von diesem Herdfeuer?
Aus dem Nachlass Kafkas ist eine kleine Geschichte überliefert, die das Paradox der Grenzziehung präziser und sinnfälliger vergegenwärtigt als viele Theorien darüber und eine Antwort geben könnte . Die Erzählung über den „Bau der chinesischen Mauer“ beinhaltet auf die Kafka eigene knapp-distanzierte Weise alles, was zum Thema Sinn und Unsinn, Logik und Absurdität des Phänomens „Grenze“ zu sagen ist.
Was da als architektonische und organisatorische Meisterleistung bis in unsere Tage bestaunt und verklärt wird – die große chinesische Mauer –, stellt sich aus der Sicht des historischen Baumeisters als Monument methodischen Wahns und dysfunktionaler Vermessenheit dar. Hunderte, tausende hochqualifizierter Techniker waren über Jahrzehnte hinweg mit größter Ernsthaftigkeit an der Organisation und Umsetzung dieses Dokuments einer in Stein gefassten Sinn- und Wirkungslosigkeit beteiligt: Ein aus Teilabschnitten mit großen Lücken langsam wachsendes und schon im Bau teilweise wieder zerfallendes Gebilde, das, in eine „öde“, menschenleere Gegend gestellt, nichts voneinander trennt und auch gegen nichts schützt:
„Gegen wen sollte die große Mauer schützen? Gegen die Nordvölker. Ich stamme aus dem südöstlichen China. Kein Nordvolk kann uns dort bedrohen. Wir lesen von ihnen in den Büchern der Alten […] in unserer friedlichen Laube. […] Aber mehr wissen wir von diesen Nordländern nicht. Gesehen haben wir sie nicht, und bleiben wir in unserem Dorf, werden wir sie niemals sehen.“
Vor Ort keine erkennbaren Feinde, tausende von Kilometern entfernt ein ebenso unsichtbarer wie unerreichbarer Kaiser. Gäbe es diese absurde, lückenhafte, durchlässig-beharrlich auftrumpfende Grenzmauer nicht, es gäbe kein Reich, keinen strukturierten Herrschaftsbezirk. Doch das zeichenhafte Werk, die symbolische Behauptung und Repräsentation der Grenze – schafft Räume; Räume und Gefühle der Verbundenheit:
„Jeder Landmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China!“
Erst die Mauer am Rande macht das Imperium. Sie bindet seine Bewohner aneinander. Das in die Landschaft gestellte Zeichen der Grenze überwindet Vereinzelung und Beliebigkeit, wird zum Motor eines starken Zusammengehörigkeitsgefühls. Kafkas Text mag im Vorfeld der Totalitarismen des XX. Jahrhunderts entstanden sein – aber er macht eine zentrale Gegenwartserfahrung greifbar. Und durchschaubar. Wir sollten uns im Dienste eines wirklichen Europäischen Spirits von diesen überkommenen Verhaltensmustern lösen.