Franz Kafka: Die Verwandlung (Schauspielhaus Zürich)

Schauspielhaus Zürich: Die Verwandlung ® Gina Folly

Kafkas Text sei „ein komplexer Impulsgeber“ – eine  Einladung zum Ungezieferwerden –  rufe jedoch nie zum Abbilden auf, heißt es im Programmheft. Folgerichtig besteht  das „Bühnenbild“ von Zahava Rodrigos aus einem großen  Wasserbecken im Zentrum des Spiel-Raumes; schräg drüber liegt ein offenbar umgestürzter Baumstamm . Kein Ort  nirgends – und offenbar doch der einzige  Aufenthaltsraum für die drei Figuren, zwei Männer, eine Frau, die nicht so recht wissen, was sie eigentlich tun sollen, können …  90 endlos scheinende Minuten lang. Dennoch belohnte  am Ende frenetischer Jubel die  Leistung des Ensembles um Regisseurin Leonie Böhm, das regelrecht gefeiert wurde. Zu recht. Mehr als eine Stunde  im einem Becken mit kaltem trüben Wasser herumzuplantschen, reinzuspringen, rauszurobben, unterzutauchen wieder aufzutauchen verdient Respekt.  Gelegentlich durfte man die drei Akteuere, eine etwas blasse aber kesse junge Frau, ein kräftiges langhaariges Wesen im gelben Pulli und  Kleid und einen schmalen, behenden  Jungen im kurzen Rüschenröckchen auch auf der  überdimensionalen Wurzel balancieren sehen und sie rauf- und runterrutschend ob ihrer behenden Akrobatik bewundern. Dann aber wieder ab ins Wasser, um sich allein, zu zweit oder dritt zu suhlen – lustvoll oder qualvoll – wer mochte das entscheiden. Oder kleine Wasserschlachten vollziehen, einfach ins Wasser abtauchen und bisweilen beängstigend lange ganz untertauchen. Und das überwiegend junge Publikum reagierte auf jeden Mucks, auf jede gelungene oder tollpatschige Bewegung mit wonnevollem Gelächter.Natürlich – man ist ja im Theater –  gab  es gelegentlich auch so etwas wie Sprache. Anfangs 20 lange Minuten, mit viel „hm“, „wolln wir“ , „sollen wir“,  „jetzt aber gleich“- Geplänkel, ob man überhaupt fähig und Willens sei zu spielen. Dann, etwa in der gleichen witzelnd indifferenten Tonlage, philosophisch-therapeutisches Gemurmel über die derzeitige innerliche Befindlichkeit, das Da-Sein an sich, Trübsinn und Weltschmerz.  Spätestens zu  diesem Zeitpunkt hatte der naive Zuschauer längst die Hoffnung begraben, irgendwelche Nähe zu Kafka, bzw. zur Verwandlung zu erwarten. Was als „Nach“ Kafka angekündigt worden war, erwies sich als keckes „Statt“ Kafka.  Also nichts von dessen Analyse  systematischer Ausgrenzung, Isolation, Entmenschlichung, dafür eine Überdosis  an wehleidigem Abtauchen, heulendem Elend am Beckenrand, abgebrochenen, undefinierbaren Ansätzen zu Rollenspielen – Vater – Kind … ab und zu, ein-, zweimal taucht ein Begriff von Kafka als verlorenes Einsprengsel auf. Das war’s.  Halt nein, noch nicht ganz. Am Ende durfte man das Trio zu irgendeiner Aufnahmeprüfung in eine Anstalt antreten sehen. Domestizierung als Verwandlung?

Um zwei Dinge  noch klarzustellen. Shakespeare nach x, Aischylos nach y —man kennt diese Marotte. Mir persönlich ist aber  kein zweiter Fall bekannt, bei dem Vorlage und Produkt so wenig miteinander zu tun haben – was freilich keinen einzigen der begeisterten Zuschauerinnen zu stören schien: im Gegenteil. JA: Im Gegenteil, denn fast schien man erleichtert,  den  ebenso bösartigen wie klarsichtigen Text Kafkas spielerisch losgeworden  zu sein. Hauptsache,  „die Wanne war voll“  und alle satt und sauber gebadet.Eine zweite – persönliche – Bemerkung:  Ich gestehe, mich  macht dieser stupende Erfolg, diese undefinierbare Heiterkeit in, bei und nach dieser Aufführung stutzig. Nicht etwa nur, weil ich die Kluft zwischen „Kafka“ und dem, was hier geboten wurde, als extrem krass empfinde und die Verlinkung mit Kafka  als etwas unredlich.  Nein, vor allem deshalb, weil hier Öde, Ennui und Langeweile als Offenbarung erkannt wurden. Da war kein Biss, nicht der Hauch innerer Spannung, theatraler Dynamik. Kein Moment wirklichen Leidens, echter Freude der Figuren. All das hätte noch drei der vier Stunden so weiterplätschern können. Und genau das – dass sich eine Generation, zumindest an diesem Abend und für einen Moment, in dieser frohgemuten Perspektivelosigkeit wieder zu erkennen schien, irritierte mich und tut es noch immer. 

Cornelie Ueding

„Amerika“ von Franz Kafka (Schauspielhaus Stuttgart, 18.05.2024)

Schauspielhaus Stuttgart: „Amerika“ von Franz Kafka. Foto: Thomas Aurin

In Sachen grotesker Überzeichnungen , absurder Albträume , klaustrophobisch düsterer Schräglagen und aufgedrehtem Horrorklamauk ist der ungarische Regisseur Victor Bodó wahrhaft einschlägig erfahren. Mit Kafkas Fragment gebliebenem Roman Amerika/Der Verschollene hat er eine für ihn ideale Spielwiese gefunden, die er vom ersten Moment an auch genüßlich ausspielt. Wobei der Genuss  freilich mehr auf  Seiten der Regie , als der  des Publikums liegt .

Nicht, dass es an  schrägen Momenten fehlen würde. Wulstig auswattierte Dickbäuche  und  klischeehaft ausstaffierte Gangster , Halbweltdamen und Bedienstete bevölkern die Bühne in Scharen  Dennoch will sich keine rechte Spannung einstellen, was mit Sicherheit an einer  in ihre eigenen Inventionen  verliebten Regie liegt.   Wenn von Beginn an  praktisch jede der Figuren um den Verschollenen , den jungen Karl Rossmann,  permanent in spastische Zuckungen, jämmerliche Erstarrung oder grimassierende Verrenkungen verfällt , beginnt das nach spätestens einer Stunde schlicht zu langweilen. So reiht sich slapstick an slapstick und die verstörende  Irrfahrt des Protagonisten gerät mehr und mehr zur Nebensache. 

Kafka  selbst schildert mit akribischer, bewußt umständlicher Genauigkeit die allmähliche Verunsicherung des gutwilligen, schlaksigen  jungen Mannes, der sich langsam mehr und mehr in den tückischen aber jeweils sehr plausibel wirkenden  Maschen des ihm fremden Systems verfängt. In Stuttgart wird daraus eine eindimensionale Abfolge von Tiefschlägen, die wie aus dem Nichts auf den armen Karl einprasseln . Der Clou, dass  da einer immer wieder sein Menschenmögliches versucht , um sich doch  irgendwie  gegen die krude Realität zu behaupten,  geht dadurch verloren . Aus einem stoischen Idealisten wird ein törichter Blindgänger. 

Immer wieder gibt es Momente, in denen aufscheint, was Bodó aus dem Stoff hätte machen können. Etwa  wenn die Verschwörung der Angestellten im Hotel „Occidental“ eine so gespenstische Dynamik  annimmt, dass Karl sich  im Reigen der Doppelgänger  in gleicher Kostümierung  nahezu  zu verlieren droht. 

Doch leider  bleibt es bei einer Addition derartiger  Momente und die mehr als zwei Stunden dehnen sich zu einem fast beliebigen Neben- und Nacheinander von monströsen  Torturen. 

Schauspielhaus Stuttgart: „Amerika“ von Franz Kafka. Foto: Thomas Aurin

Schlimmer als dieses  existentielle Manko ist der damit einhergehende Verlust an politischer Aussage. Die niedliche Klimbimschau  nimmt dem brandaktuellen Stück über Exilerfahrung, Migration und Suche nach neuer Identität genau diesen aktuellen Bezug. Noch nicht einmal die fragwürdige Schlussutopie des „Naturtheaters von Oklahoma“ , gibt dem Stück jene Wende, die ihm Leben einhauchen könnte. Am Ende (wie bereits zu Beginn)  landet man vor einer Registratur: Name , Vorname, Beruf….

So versickert die Aufführung eher als dass sie pointiert endet.  Erstaunlich  – und sehr bedauerlich – in Anbetracht der Tatsache, dass Kafkas „Amerika“ ja vermutlich aus genau den  Gründen  politischer Aktualität  gerade jetzt  auf die Bühne gebracht wurde.

„Giulio Cesare in Egitto“. Händel am 20.04.2024 (Oper Frankfurt)

Geisterstunde nach der Schlacht. Zu Beginn erscheint alles wie in Zeitlupe: die Figuren bewegen sich wie in Trance, in erstarrten ritualisierten Bewegungen durch anonyme Räume. Räume der besonderen Art – eigentlich nur eine schmale Spur, ein fast unentrinnbares Nebeneinander gleitender, nach vorn offener karg ausgestatteter Zellen, auf der sich „das Handeln“ aller Figuren bewegt- eine Art Gefangenschaft in der jeweils eigenen Perspektive Eine ebenso seltene wie einleuchtende Übersetzung dessen, was man historische Notwendigkeit, ja: Schicksal nennt.

Denn ob Kampf oder Sieg – der Spielraum ist und bleibt buchstäblich schmal Das Aufeinandertreffen mit Feinden geschieht geradezu zwangsläufig: ob die hintere Begrenzung nun eine Wand mit oder ohne Tür ist. Jeder/jede sieht nur Ihren Ausschnitt der Wirklichkeit – Der Überblick über das Ganze fehlt – was in dieser Situation besonders fatal ist, denn jetzt am Ende des militärischen Sieges sind alle apathisch und angespannt zugleich. Sieger wie besiegte, Römer wie Ägypter. Jeder lauert auf den nächsten Schritt des anderen. Cäsar, der schockiert und verwirrt von seinem Triumph apoplektisch zu Boden fällt, der Hofstaat der Besiegten, die nicht wissen, wie sie mit den neuen Machtverhältnissen, besser dem Machtvakuum umgehen sollen. Tolemeo, bisher König von Ägypten versucht sich dem neuen Herrscher opportunistisch anzudienen: in völliger Verkennung der Situation präsentiert er stolz den enthaupteten Rumpf eines römischen Gegenspielers des Cäsar. Doch statt des erhoffen Lob trifft ihn ein Fluch des in diesem Moment patriotisch denkenden Kaisers.

Strategisch wesentlich geschickter geht seine Schwester, Cleopatra vor: als Dienstmädchen verkleidet, versteht sie sie es, geschickt das erotische Interesse des kampferprobten Weltenbeherrschers zu erregen und diesen -innerhalb weniger Szenen- in einen pennälerhaft herumtänzelnden Clown zu verwandeln, der seinen schwärmerischen Liebesfantasien freien Lauf läßt. Einer der wenigen erheiternden Momente in dieser ansonsten strengen, ja gnadenlosen Choreographie der Macht, die sich unter der Regie von Nadja Loschky auf keinen modischen Schnickschnack (Wie etwa Cecilia Bartolis grandioser Salzburger Fehlgriff, die Cleopatra schick auf eine Rakete verfrachtete.) Nichts davon in Frankfurt.

Anstelle aufwändiger technischer Tricks und skurriler Einfälle tritt eine dramaturgisch virtuose Verspiegelung der Verwandlungs- und Zerfallsprozesse der involvierten Figuren. Cleopatra spielt die Verwandlung von der Küchenhilfe zur Königin absolut überzeugend, auch wenn sie nicht viel mehr als einen weißen Schleier braucht, während Cäsar zwischenzeitlich als verliebter „Gockel“ Brilliert und amüsiert.

Die einzige, die sich in diesem antiken Intrigantenstadel nicht verwandelt, ist natürlich die Römerin Cornelia, die all das über sich ergehen lassen muss, was die geschmeidig trickreiche Ägypterin elegant vermeidet. Anders als die wendige Cleopatra läßt sie alle Avancen und Martern an dich abgleiten – auch stimmlich gefasst und ohne falsche Arabesken . Wenn stoische Verzweiflung einen Klang hätte- Ihre Arien, die jeder Lieblichkeit entbehren, wären es. Besonders im Zusammenspiel mit ihren schmächtigen Söhnchen, dem die Rolle des Rächers alles andere als auf den Leib geschrieben ist- im Gegenteil, seinen entscheidenden Schlag gegen den brutalen Tolemeo, der bereits im Begriff ist, seine Mutter zu vergewaltigen, vollzieht er in geliehenen Klamotten, die ihm nur so über die schmalen Glieder schlottern. Mehr noch – nach vollbrachter Rettungstat verfällt er nicht etwa in eine stolze Siegerpose, sondern bricht förmlich zusammen und torkelt orientierungslos durch den Raum. Der großen Tat, die er sich selbst auferlegt hatte, ist er psychisch letztlich noch nicht gewachsen.

Es sind gerade diese Momente, in denen sich Figuren aus der Hülle Ihrer Identität herausschälen und etwas von sich preisgeben, von dem sie selbst nichts wussten. Jede Figur außer der stoischen Cornelie durchlebt diese Momente: Tolmeo, der mehr und mehr zum mörderisch- bedrohlichen Dandy mutiert und seine Opfer mit zynischer Gleichgültigkeit traktiert. Cleopatra, deren routinierte Verführerinnenrolle im Angesicht der Palastrevolte um sie her kollabiert und in existenzielle Panik umschlägt. Und selbst Cäsar, der vom dominanten Heerführer zum „Schutzsuchenden“ wird. Es gehört zu den Qualitäten dieser Aufführung daß diese Auflösungs- oder Verwandlungsprozesse nicht nur verbal behauptet, sondern visuell konkretisiert werden: Alles gleitet kontrastiv wie in einem Dominospiel der Macht fast folgerichtig ineinander und das Fließband der Macht läuft weiter und weiter. Daß selbst der Ehe von Cäsar und Cl. Zu der es zwischen rauchenden Trümmern der zerschossenen Geisterstadt kein Glück auf Dauer beschieden sein wird, ahnt jeder in dieser brillant gedachten und gemachten Inszenierung spontan.

Don Carlos

Copyright: Staatsoper Stuttgart. DON CARLOS: Olga Busuioc (Elisabeth von Valois), David Junghoon Kim (Don Carlos), Staatsopernchor; 2024

Kettenreaktionen des Grauens – so könnte man den Verlauf dieser ebenso wuchtigen wie zerstörerischen Verdi-Oper umschreiben. Und in dieses Mahlwerk, diese tödliche Mechanik der Macht gerät ausgerechnet einer wie der junge Don Carlos: Gutwillig, unerfahren, voller Sehnsucht nach echten Gefühlen und großer Liebe. Unterjocht von einem „Vater“, gegen den Kafkas sehr dominanter Vater harmlos erscheint. Herrscher über das größte Imperium seiner Zeit – regiert von einem straff und rücksichtslos geführten Regime, das keinen Widerspruch, keine Toleranz, keine noch so geringen Freiheitsrechte kennt. 

Alles beginnt mit der Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen. Don Carlos verliebt sich jedoch ausgerechnet in jene französische Prinzessin, die sein Vater wenig später zur Frau nehmen wird. Die angebetete Geliebte wird dadurch im Handumdrehen zu seiner „Mutter“. Jeder weitere Annäherungsversuch zu einem  Staatsverbrechen. Traumatischer kann man sich den Anfang einer jungen Liebe kaum vorstellen. Als dann noch sein Jugendfreund, der kampferprobte, idealistisch gesonnene Marquis Posa dazustößt, bekommt die ohnehin mehr als angespannte Situation eine brandgefährliche politische Dimension. Rebellion gegen das gesamte, fanatisch katholische Herrschaftssystem steht im Raum.

Und nun beginnt das Räderwerk der Macht sich zu drehen – konkret: Die  gewaltigen schwarzen Wände des Bühnenraums, halb Seziermesser, halb Guillotine, kommen in bedrohliche Bewegung und die Menschen, die dazwischengeraten, voneinander abzuschneiden oder verschwinden zu lassen. Innerhalb kurzer Zeit geraten alle Figuren buchstäblich an Rand ihrer Möglichkeiten: Don Carlos geistert an glatten Wänden entlang und wird mehr und mehr zum Zuschauer seiner eigenen Geschichte. Marquis Posa dringt kühn in das innere Zentrum der Macht vor, kippt um und wird zu einer Art königlichem Spitzel. Elisabeth, die einstige Geliebte des jungen Don Carlos, wird vom System der Macht einfach entmündigt und kurzerhand absorbiert, verschluckt.

Doch auch die Mächtigen selbst bleiben in Lotte de Beer‘s genialer Regie vom Mahlwerk Macht nicht verschont: besonders der mächtigste Mann der Welt, Philipp II., der im Verlauf der Handlung zu einem Häufchen misstrauischem Elend verfällt: Opfer des rigorosen Überwachungs- und Bespitzelungssystems, das er selbst aufgebaut hat. Liegt doch über dem gesamten Hof eine Art Generalverdacht – ein kleiner Schritt vom Weg, und man wird eliminiert. Eine Hofdame lässt ihre Herrin, Elisabeth, für einen Moment allein. Der König bemerkt diese „Unachtsamkeit“: Sofortige Verbannung der Täterin ist die Folge. Hinter dieser lähmenden drakonischen Observanz und der Pose des Law and Order Herrschers freilich verbergen sich  – für den Zuschauer erkennbar –  verleugnete Schwächen und tiefgreifende Unsicherheit. 

Lotte de Beer zeigt dies anschaulich durch dezente aber in der Summe unübersehbare körperliche Einbrüche in die starre Oberfläche: erst ein pompöser, bühnensprengender Auftritt und Aufmarsch vor Hof und Volk  – dann eine jämmerlich-zerknautschte  Schlafzimmerszene in Unterhosen nach dem Motto: „Ach, sie hat mich nie geliebt …“ – abrupt unterbrochen durch den leisen aber verstörenden Auftritt des Großinquisitors, vor dem der mächtige König nicht nur körperlich in die Knie geht. Für die Aussage, dass er auf der Suche nach einem „Menschen“ den Marquis von Posa – in den Augen der Inquisition ein Hochverräter – ins Vertrauen zog, hat der mächtige Inquisitor nur kalte Verachtung übrig. Ein König hat sich keine „menschlichen“ Schwächen zu leisten. 

Allmählich, ein genialer Regietrick, erlischt jede Helligkeit und jegliche Aktivität, ja: die Oper selbst verdämmert im Dunkel. Dagegen können auch die weißen Kleidchen der fröhlich tanzenden Kinder nichts, die zu Beginn des 2. Akts den unglücklich und unnütz herumschleichenden Don Carlos umhüpfen und bespielen. Wenig später werden sich die Unschuldslämmer als eifrige Helfer der Inquisition erweisen – und die lieben Kleinen üben diese Rolle schon mal am Beispiel der Verbrennung einer Puppe spielerisch ein. In dieser Phase wagt das Orchester eine Art vorweggenommenen Ausflug in eine schmerzhaft grundierte Atonalität, die so gar nicht zu den schmelzenden Arien und Duetten passt, den alle Akteure mit großer Bravour anrührend präsentieren. 

Vielleicht wirken diese Arien, etwa die verzweifelt letzte Arie der Elisabeth, auch deshalb so stark, weil die stimmliche und melodische Brillanz der Musik auf eine abgrundtief zerstörerische und zerstörte Situation trifft. 

Alle Beteiligten sind nur mehr Schatten ihrer selbst. Und der Tod ist längst zu einer ersehnten Gewissheit geworden. Marquis Posa fällt durch einen Genickschuss. Sein vermeintliches Opfer für den Prinzen erscheint in Anbetracht des desolaten und desillusionierten  Zustands alles Akteure ebenso sinnlosCA wie das Bemühen um Haltung, das Elisabeth und Carlos – beide nun strikt auf Abstand – zu zeigen versuchen.

Denn am Ende werden –  folgerichtig möchte man fast sagen  – die letzten Reste des Widerstands von den Schwarzen Schergen und den nun gar nicht mehr fröhlichen Kindern kurz und schmerzhaft massakriert. Das Experiment Gedankenfreiheit für Flandern ist gescheitert – nicht grandios, sondern erbärmlich. Die Eindimensionalität der jeweiligen Vorhaben/ Pläne/ Ideen/ Handlungsbereiche der Männer UND Frauen lässt es nicht zu, dass die Figuren, wenn sie in einem Bereich scheitern, andere Wege suchen. 

Bessere Zeiten werden als aufs Jenseits verschoben – in allen Bereichen und permanent. Auf Erden herrscht der Inquisitor!! Auf der Bühne eine Art blinder Intrigenmechanik. Hochaktuell also war – und ist! –  diese wieder aufgenommene, inzwischen fünf Jahre alte Inszenierung, jetzt unter der musikalischen Leitung von Valerio Galli.

Und durchaus auch ein aktueller Weck-Ruf! Schon das (im Programmheft abgedruckte) Gespräch mit der Regisseurin thematisiert, dass die Figuren nicht mit Macht umgehen können, betont die Gängelung von oben: Carlos vom Vater, dieser vom Großinquisitor – die mutig von Marquis Posa geforderte „Gedankenfreiheit“ bleibt pure Illusion: Buchstäblich alle unterliegen dem Gesetz einer  Fremdsteuerung, die jede  Eigeninitiative kontaminiert und damit aller Versuche eines Aufbegehrens, etwa nach der Wegnahme der Braut von Don Carlos durch seinen Vater buchstäblich ins Leere einer öden Bühne laufen läßt. Trotz – oder gerade wegen dieser kompromisslosen Tristesse ein erhellender Abend, weil er zeigt, wie stark die Kräfte der kollektiven Vereinnahmung auf jeden einzelnen wirken. 

Fidelio (Bayerische Staatsoper, München)

Fidelio 2024 | Musikalische Leitung: Constantin Trinks
©Wilfried Hösl


Es gibt Werke, die nach Aktualisierung schreien. Die man
regelrecht ins Hier und Jetzt zerren muss. Andere wie Fidelio sind so brandaktuell geblieben, dass sie uns förmlich anspringen, auch wenn sie 200 Jahre alt sind. Und es gibt Inszenierungen mit so kurzer Halbwertzeit,
dass man ihnen ansieht, dass sie schnell gealtert und in die Jahre gekommen sind. Und dann wieder solche, wie die von Calixto Bieito, denen man ihr Alter von mehr als 10 Jahren nicht nur nicht ansieht, sondern die geradezu auf das aktuelle Tagesgeschehen ausgerichtet zu sein scheinen.

Der Münchner Fidelio vereinigt beiden Qualitäten in überraschender, vielleicht sogar bestürzender Weise. Spätestens wenn der als zynisch lässiger Moderator auftretende Minister am Ende fast beiläufig den Häftling
Floristan erst niederschießt, wenig später gönnerhaft spielerhaft feiert, kommt man auch ganz ohne ‚„aktualisierende“ Krücken nicht umhin, an den skrupellosen Umgang mit politischen Gefangenen heutzutage zu denken, gleich ob sie Nawalny oder Assange heißen.

All diese politischen Bezüge stellen sich assoziativ ein, obwohl, vielleicht gerade weil es sich um eine Art der Regie handelt, der nichts plakativ Politisches anhaftet, sondern die von hoher ästhetischen Verfremdungskraft getragen ist. Allein durch das zugleich feingliedrige wie bedrohliche Bühnenbild (Rebecca Ringst) gerät der Zuschauer vom ersten Moment an in den Bann eines ebenso düsteren wie technokratisch kalten Hochsicherheitstrakts. Dreidimensionale turmhohe, labyrinthisch verschlungene Stahlgerüste lassen dem Einzelnen, dem Individuum, das
in diese tödliche Strafmaschinerie gerät, keine Chance.

Und alle, dies zeigt Bieito in beklemmender Art und Weise, sind hier gleichermaßen Opfer eines perfekten, perfiden Strafsystems. Nicht nur Fidelio. Auch seine Retterin Leonore, das Personal und die Familie der
Wachmannschaft, der racheglühende und bosheitsprühende Pizarro und auch der alle Verstrickungen lösende Minister werden letztlich zu Agenten und Akteuren dieser stählernen unentrinnbaren Strafkolonie. Aus dem sich alle, ständig kletternd, klimmend, sich in schwindelerregende Höhe katapultierend, Salti-schlagend zu befreien versuchen, um sich wenig später wieder von der Gravitation der Gewalt eingeholt und eingesperrt zu finden. Selbst Teile des Orchesters spielen in Käfige verfrachtet ihr tristes Requiem zu Ende.

Dabei könnte der „Fidelio“ ja eigentlich eine der wenigen Opern sein, die – in dieser Hinsicht nur mit der „Zauberflöte“ zu vergleichen – in einem grandiosen Triumph der „Guten“ endet. Enden könnte. Wäre da nicht
das eiserne System, die stählerne Klammer der Unterdrückung, die eine Befreiung letztlich unmöglich macht. So stehen die Liebenden am Ende eher wie örtlich Betäubte nebeneinander – von Seligkeit kaum eine Spur.
Und wenn dann der Minister, eine Mischung aus Clown und Todesengel, von der Loge herab auf die Bühne kommt, kollabiert die Feierstimmung endgültig. Das Dirigat von Constantin Trinks passt sich diesen Stimmungsabbrüchen präzise an, alle pathetischen Aufwallungen brechen nach kurzen Momenten in sich zusammen und unterstreichen, dass man aus diesem Gefängnis niemals wird entweichen können.

Katzenjammer und Traumatisierung statt jubelnder Extase. Von wegen : „es sucht der Bruder seine Brüder“ – Bieito entlarvt die Doppelbödigkeit und Verlogenheit dieser aufgesetzten Glückshysterie (in der mittlerweile fast
fünfzehn Jahre „alten“ und bestürzend aktuell gebliebenen Inszenierung) aufs radikalste. Und dieser Durchblick führt paradoxerweise nicht zu einer allgemeinen Frustration, sondern, im Gegenteil, zu einer gewissen Lust an
kritischem Erkennen und Durchschauen der vergitterten Fassadenwirklichkeit. Ein durchaus ästhetisches Vergnügen – am schönen Schein wie auch am Zerplatzen der Illusion.

Cornelie Ueding

Joshua Sobol: Der große Wind der Zeit (Schauspiel Stuttgart: Uraufführung 24.Februar 2024)

Paula Skorupa (Eva), oben: Camille Dombrowsky (Libby), Max Braun (Live-Musik), Foto: Katrin Ribbe

Wohlwollender und dankbarer Gesinnungsapplaus belohnte zu
recht diese überaus präzise  platzierte Uraufführung
zum Thema des immerwährenden Krieges zwischen den
Palästinensern und Israel.
Altmeister Sobols großer Roman aus dem Jahr 2021 diente
dabei als Vorlage für ein auf gut zwei Stunden zusammengestutzes Theaterstück. Eine Verschlankungskur, diediesem Werk nicht gut getan hat. Im Roman verwebt Joshua Sobol die Lebensfäden von zwei
Dutzend Personen, die einander brauchen, sich betrügen und
belügen. Ungeschützt lässt er die Figurenin witzigen, sarkastischen Dialogen aufeinander los und
verschränkt dabei die Vergangenheit der 20er, 30er Jahre mit
der Gegenwart. Abgebrüht und egomanisch, rücksichtslos und
skrupellos sind sie fast alle. Es macht großen Spaß, ihrem Witz
und ihrer Vitalität im Roman zu folgen und en passant eine
ganze Lektion in Sachen Geschichte des Landes Israel zu
lernen. 
Anders im Theaterstück, wo genauso dieser Witz nur mehr in
Spurenelementen vorhanden ist, dafür eine Art Repertorium
vom Zionismus bis zum Holocaust auf dem Lehrplan steht. In
der Tat muten manche Dialogpassagen wie Teile eines
Lehrstücks an. Da nutzt es nichts, wenn man wie die quirlige
Hauptfigur Libby ständig den blonden Haarschopf zerwühlt oder
wie die militante Tänzerin Ewa minutenlang in rhythmische
Zuckungen verfällt: Im wesentlichen lässt das Stück den
Betrachter so kalt wie Brecht sich das nur hätte wünschen
können, obwohl die Grundidee wirklich spannend sein
hätte können.
Libbys Lektüre des Tagebuchs ihrer Urgroßmutter wird zum
Eyeopener für ihr eigenes Leben —  aber die
doppelgängerische Verwandlung in ein alter ego bleibt
bloße Behauptung:  Das Gespräch der ehemaligen israelischen  Spezialistin für Verhöre Libby mit einem zu Unrecht verdächtigten
palästinensischen Studenten mutiert zu einer Arakademischem Gedankenaustausch über pro und contra Israel.
Innerhalb weniger Minuten verwandelt sich die hartgesottene
Inquisitorin in eine nachdenkliche, sichtlich angefasste
Zivilistin, die folgerichtig spontan den Militärdienst quittiert und
sich auf historische Spurensuche begibt: Sie nistet sich im
Dachboden ihrer Urgroßmutter Eva ein, die Anfang des 20.
Jahrhunderts nach Palästina gekommen war, durchstöbert
deren Tagebücher und entdeckt eine mutige damals sehr junge
Frau. Die eine Ausbildung zur Tänzerin ausgerechnet im
präfaschistischen Berlin absolvierte. Spät aber gerade noch
rechtzeitig durchschaut sie den Schwindel und den sich
anbahnenden Antisemitismus und erteilt vor ihrer Rückreise
ihren wohlsituierten Eltern eine reichlich klischeehafte
Privatstunde in Sachen Bestialität der Faschisten – was sie aber
nicht hindert, sich erstaunlich lange in Berlin mit einem Nazi
einzulassen. Nach Israel zurückkehrt wird aus der Künstlerin
eine Kämpferin, während  Libby – ganz im Banne der
großmütterlichen Vita – gleichsam in ihrem mentalen
Windschatten, weiter und weiter recherchiert: bis Ihr
schnoddriger  jüdischer Großvater, der sich als lässiger Biker
gibt, seine früheren Untaten im Krieg gegen die Palästinenser
 gestehen muss – und mehr noch: an den „Tatort“ geführt wird,
um dort noch einmal das palästinensische Mädchen, das er
damals verriet zu treffen. Am Ende dieses modellhaften
Aufarbeitungsprozesses stehen sich zwei verdatterte Ruinen
einer versäumten Liebe – sie deportierte  Palästinenserin, er
Jude und Deporteur – fremd und in die Jahre gekommen,
zärtlich  und leicht sentimental gegenüber. 
Zugegeben, es ist nicht einfach einen solch gewichtigen Roman
auf einen Theaterabend herunterzukürzen. Aber wenn alles,
was die Figuren und Situationen interessant und doppeldeutig
machen könnte, wegfällt, der schwarze Humor, der im Roman
die Gefühle der Figuren grundiert erlischt, erlischt damit
einfach auch das Interesse und das Ganze wird recht blutleer.
Und dies bei einem Stück, in dem so viel sinnlos vergossenes
Blut fließt… Ein Verlust, der nicht zu Lasten der extrem
engagiert agierenden SchauspielerInnen geht, sondern auf das
Konto der schwachen und einfallslosen Regie von Stephan
Kimmig. Am Ende dieser Weltkriege-Erfahrungen (besonders im
zweiten Teil des Abends) stehen nur noch
nichtssagende, plakative Fertigdialoge. Die sind so steril wiedas gigantische moderne Beton-Gebäude auf der Bühne: Kein Lebensraum, keine Behausung – nur gewaltig drehend, bedeutungsvoll verlangsamt und die wechselnden Einblicke bleiben gleichfalls nichtssagend.
Ergriffen vom Thema achtete das Premierenpublikum
möglicherweise nicht auf derartige Defizite. Und um der Sache
willen mag es damit sein Bewenden haben. Zu weiterer Kritik
ist die derzeitige politische Situation zu prekär. 
Cornelie Ueding

Siroe / 16. 2. Großes Haus Karlsruhe

Foto: Felix Grünschloss

Dunkles, gruftartige Gewölbe , Game of Thrones-artig kostümierte
Figuren, sehr viel blitzende Schwerter, sehr viel flackerndes Feuer. 
Mittelalterliche Gesamtatmosphäre. Man kann der Regie nicht
vorwerfen, sie hätte auf Aktualisierung, Modernisierung gesetzt, um
die krude Geschichte um den gefürchteten persischen
Gewaltherrscher Cosroe eingängiger zu machen. Nach einer blutigen
Schlacht, die ihm beachtlichen Macht- und Landgewinn einbringt,
sieht der König die Zeit gekommen, seine Thronfolge zu regeln. Ein
schier hoffnungsloses Unterfangen in dieser ganz besonderen
Familienbande. Es könnte nicht schlimmer sein: keiner traut keinem
in dieser Familie. Denn es geht in dieser leider viel zu selten
gespielten Oper letztlich nur um eines: um Macht.
Genauer: um den Fluch der Macht. Als erstes begeht Cosroe einen
entscheidenden Fehler: Er setzt auf den falschen Sohn, misstraut
dem loyalen Siroe und begünstigt den tückischen, ehrgeizigen
Medarse.

Aus dieser Fehlentscheidung entwickelt sich eine fatale
Mechanik der Intrigen, von der keiner und keine verschont bleibt.
Auch nicht die Rivalinnen um die Gunst Siroes: Emira, die Tochter
des eben vernichteten Feindes, die,  in Kampfmontur, den Dolch
gezückt, auf Rache sinnt, und die  als Sonnenkönigin aufgeputzte
Konkubine des Herrschers, Laodice, deren Avancen  der standhafte
Siroe aber zugunsten der geliebten „Feindin“ Emira zurückweist.
Zugleich misslingt sein Versuch, den Vater vor dem geplanten
Attentat seiner Geliebten zu warnen, so spektakulär, dass nun er in
Verdacht gerät als  Hochverräter zu agieren.

Summa Summarum eine albtraumartige Situation: Laodice tiefverletzt und racheglühend. Emira, die er liebt und zugleich  daran hindern will, seinen Vater zu töten. Sein ehrgeiziger Bruder, der versucht die Gunst der Stunde zu nutzen und ihn weiter in Misskredit bringt. Und ein aufs Tiefste
verletzter, vor Wut schäumender Vater, der sich von allen und vor
allem auch von ihm verraten fühlt und nicht zögert, den eigenen
Sohn hinrichten zu lassen. Unversöhnliche Liebe und
selbstzerstörerischer Hass treiben die Figuren an den Rand des
Selbstmordes und der Verzweiflung – ein Affektgemenge, das das
innerlich vibrierende Dirigat Attilio Cremonesis in seiner emotionalen
 Wucht und Verve  exzellent zum Ausdruck bringt: geschmeidig und
zugleich kraftvoll haucht er Händels Opera Seria eine Energie ein,
die 300 Jahre seit der Premiere im Londoner Haymarket Theater
vergessen und das Publikum gebannt mitfiebern lassen.

Wenn sich im allerletzten Moment doch noch alles zum Guten
wendet, genauer, nur das Schlimmste vermieden wird, will dies
keine rechten Glücksgefühle auslösen. Der Raum vibriert noch
immer, bebt förmlich nach, und die unaufgelösten Spannungen
wirken weiter. Kein rein kulinarischer, eher ein auf erhellende Weise
verstörender Festspielauftakt.  Regisseur Ulrich Peters sucht und
findet überzeugende Bilder, um der enormen Spannung, die auf
jeder der Figuren lastet, zum Ausdruck zu bringen. Der verräterische
Bruder zerbricht förmlich auf offener Bühne, die enttäuschte Laodice
steht am Ende zerfleddert in einer Ecke und die Düsternis der Bühne
lässt nicht den Schimmer einer Hoffnung aufkeimen. 
Allein die Musik, die nuancierte Abstimmung der Countertenöre, der
Wettstreit der beiden virtuos  rivalisierenden Frauenstimmen und die
großartigen Händelsolisten im Orchester, vermitteln so etwas wie ein
befreiendes Moment. 

Cornelie Ueding

Zauberflöte Stuttgart 2024

Foto: Staatsoper Stuttgart

Superlative begleiten diese offenbar alle verzaubernde Zauberflöte
seit …Jahren: Tourneen durch  ganz Deutschland,  ja  um die halbe
Welt. Dieser fantastische Mix aus Comic, Cosmocomic, Stummfilm, digitaler Animation und großer Oper  ist ein Unikat – und  genau das sollte es auch bleiben. Nicht auszudenken, wenn dieses Kunstprodukt aus dem Ideenlabor Kosky / Andrade flächendeckend  in  Serie gehen würde. Ohnehin musste eine ganze Reihe von Glücksfällen zusammenkommen, damit dieses Experiment mit Ingredienzien aus unterschiedlichsten Bereichen derart  überzeugend  gelingen konnten: ein enormes Gefühl für
Tempo, Rhythmik und Geschwindigkeit.  Gespür dafür,  wann und wie man die kleinen Puppen , Püppchen tanzen lässt und die „Leinwand“ dieses imaginierten Stummfilms belebt.

Auch benötigen diese Alchemisten der Plurimedialität neben dem Wissen
um technische Finessen einen 7. Sinn für ironische Pointen und  für
das Konterkarrieren von Ernsthaftigkeit.  Einer der Hauptgründe für diesen Megaerfolg aber liegt schlicht und ergreifend in der Vorlage selbst, der „Zauberflöte“, die sich geradezu für einen  gewagten artistischen Rettungsversuch dieser Art anbietet. Rettung vor romantisierenden Weichzeichnern, parareligiöser Ernsthaftigkeit oder kindischen Märchenonkelei. All dies hat man bereits Dutzende von Malen gesehen und lässt es mehr oder weniger gleichgültig über sich ergehen. Für eine wirkliche Überraschung war dieses  kuriose „Machwerk“ (wie bissige Kritikaster es gelegentlich nannten) längst nicht mehr gut.


Bis…ja bis Kosky/Andrade sich darüber her machten – und dem
Stück Beine machten. Von der ersten Minute an – wenn die
böse Schlange den unschuldigen Jüngling verfolgt. Was hat man da
nicht schon alles vorgeführt bekommen. Plüschtiere, Plastikdrachen, einen Siegfriedverschnitt als Drachentöter. Hier zerfällt Tamino vor Panik in zwei Hälften, ein Teil verharrt erstarrt, eine anderer flüchtet mit panisch strampelnden Beinen.  Oder die immer etwas peinliche Szenen mit den drei das Geschehen assistierenden Damen. Hier stehen  sie als Säulenheilige gutwilliger Geschwätzigkeit ganz oben auf Podesten und senden allenfalls sentimentale Liebesgrüße an Tamino, das Objekt ihrer Zuwendung. Die Königin der Nacht, üblicherweise muss sie sich ja „dämonisch“ geben, wird hier zur alles überwölbenden Riesenspinne zwischen deren Klauen sich winzige Menschen verfangen und die lähmend bedeutsamen
Auftritte der „Isis und Osiris“ Granden lösen sich auf in zylindertragende, schwarze Drohfiguren wie man sie aus dem Stummfilm der 20er Jahre kennt.


A propos Stummfilm: neben den Comics vielleicht die beglückendste Idee, um die Oper von einer ihrer ärgsten Schwächen auf überaus elegante Weise zu befreien – ihren quälend langen hölzernen Rezitativen.  Statt ätzenden Witzeleien und bedeutsamen Weisheitslehren nun knappe Zwischentitel in balkendicker Stummfilmkintopp Manier  – ein Wundermittel, um der zauberhaften Flöte alles  Zaudernde, Retardierende auszutreiben.  Mit der Autorin, Regisseurin und Performerin, Suzanne Andrade  gründete 2005 gemeinsam mit dem Animationskünstler und Illustrator Paul Barritt  und Berrie Kosky hat sich ein Team gefunden, dem es meisterlich gelang, der alten, ein wenig
abgehangenen betulichen Märchenoper Flügel zu verleihen  und sie
in Schwung zu versetzen. Eine neue Leichtigkeit, nach der man sich, dies zeigt die Resonanz der Publikums, offenbar lange sehnte, vielleicht ohne es zu wissen. Witz und Ironie statt Weihrauch und Tiefe: Warum eigentlich nicht?

Jacques Offenbach: Die Banditen / Oper Frankfurt/ Februar 2024

Copyright: Barbara Aumüller. v.l.n.r. Gerard Schneider (Falsacappa), Elizabeth Reiter (Fiorella), Yves Saelens (Pietro) und Kelsey Lauritano (Fragoletto

Ein verwegener Mix zwischen Can Can, Marschmusik und ausgelassenem
Veitstanz: In seinem Spätwerk von  1869 zieht Jacques Offenbach noch
einmal alle Register seines überbordenden Könnens. Sein  musikalisches
Feuerwerk zündet und züngelt nach allen Richtungen, sprüht vor Begeisterung, kokettiert mit dem Absturz   und zieht im letzten Moment  immer wieder den Kopf aus der Schlinge der Konvention. Eben noch naiv-idyllisierend,  imnächsten Moment pathetisch, pompös , dann wieder gekonnt parodistisch,respektlos, mitreißend und schräg. Und die Figuren agieren als seien sie ins Leben übersetzte Musik, ein veritables Intrigenballett. 
Und an intriganten Elementen herrscht  auf freier Banditen-Wildbahn im
romantisch wilden Wald   an der spanisch-italienischen Grenze, an der das
Ganze spielt,  nun wirklich kein Mangel. Der Hauptmann der Bande , der
verwegene Falsakappa,  steht schwer unter Druck,  denn die Truppe beginntzu meutern –  so hat man sich das Räuberleben nicht vorgestellt. Man wollte
mehr Geld und weniger Arbeit. Was man nun hat, ist das genaue Gegenteil:
Schufterei für karge Beute. Also muss ein großes Ding her, ein ganz großes.
Da trifft es sich gut, dass ihnen ein Jüngelchen vom Rechnungshof über den
Weg läuft, einer mit einem Aktenköfferchen voll mit Dokumenten. Eines davon ist  für die krisengeschüttelten Gangster von besonderem Interesse. Ein „intereuropäischer“ deal zwischen Spanien und Italien. Für die dynastisch profitable Ehe des Prinzen von Mantua mit der Prinzessin  von Granada werden dem Land 2 von 5 Millionen Schulden erlassen. Bleiben 3 Millionen,  die am Tag der Verlobung auszuzahlen sind. Eine Summe, die die Gier der Gangster natürlich steigert und zu verwegenen Plänen motiviert.

Um es kurz zu machen: Man kapert das Hotel, in dem die spanische Gesandtschaft nächtigen wird. Empfängt  und entwaffnet als Köche und Personal verkleidet die Granden. In deren Kostümen gehts zum italienischen Hof in Mantua um die fällige Restsumme abzukassieren. Ein genialer Plan – der auch beinahe aufgegangen wäre – hätte nicht der mickrige, zerzauste Schatzmeister das ganze Geld – bis auf einen lumpigen Tausender – inzwischen für seine Weibergeschichten verprasst. Und es kommt noch schlimmer: die vorübergehend  in den Keller entsorgten Original-Spanier tauchen in Unterwäsche wieder auf und stellen ihre Peiniger.

Denen droht bereits der Strick, bevor  ein nicht minder bedröbbelter Graf
„Gnade“ gewährt.  Wie alles bei 0ffenbach ist auch dieser „Gnadenakt“ zutiefst fragwürdig. Der Aristokrat ist selbst korrupt bis in die Knochen – wie alle am Hofe, die schlüpfrigen Hofdamen inklusive. Wo alles Pseudo ist, hat jede Art von Moral ihre Berechtigung verloren. Wäre da nicht die spontane Liebe zwischen der Räubertochter und dem überfallenen Biobauern, die einen Moment ernsthaften Gefühls aufblitzen lässt – es bliebe nichts. Nichts außer dem sprühenden mitreißenden Witz, der den  soeben aufgerissenen Abgrund im Gleichschritt – hoch das Bein und Can Can getanzt – wippend zu überspringen scheint. Sängerisch, musikalisch, stimmlich und choreographisch ein in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk wider allen tierischen Ernst.


Cornelie Ueding

Aida (Oper Frankfurt 2023/24)

Copyright: Barbara Aumüller. Oben v.l.n.r. Guanqun Yu (Aida), Claudia Mahnke (Amneris) und Kihwan Sim (Der König von Ägypten) sowie unten in der Bildmitte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen Nicholas Brownlee (Amonasro), umgeben vom Ensemble
Copyright: Barbara Aumüller. Oben v.l.n.r. Guanqun Yu (Aida), Claudia Mahnke (Amneris) und Kihwan Sim (Der König von Ägypten) sowie unten in der Bildmitte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen Nicholas Brownlee (Amonasro), umgeben vom Ensemble

AIDA, das heißt große, ganz große Opernbühne: am besten ganze
Arenen, Pferde und Elefanten. AIDA war und ist ein Politikum –
Seit je her war das Auftragswerk des Ägyptischen Vizeregenten
Ismail Pascha zur Eröffnung des Suezkanals ein nationales
Prestigeobjekt: Pomp,  Pathos,  Patria seine Insignien.  Der Name
Aida steht synonym für das beste und schlimmste, was man mit
dem Begriff „große Oper“ verbindet. 
Regisseurin Lydia Steier wusste natürlich um diese Hypothek,
ebenso  wie  um  Neuenfels` legendäre Frankfurter „ Aida“ von
1981 als es – Aida als Putzfrau – zu einem riesigen Theaterskandal
inklusive Bombendrohungen kam. Die vereinzelten Buhrufe am
Ende der neuen Frankfurter Aida waren nur mehr ein matter
Abglanz der damaligen Erregung. Denn der US-Regisseurin ging
es weniger um eine neuerliche Provokation, als um eine neue
Sicht auf das martialisch pompöse Geschehen, um Geschichte von
unten, will man es auf eine knappe Formel bringen.  Ihr Trick
dabei:
Keine plumpe Aktualisierung. Und auch keine pure Reduktion auf
Wohnküchenmilieu – wie so oft. 

Copyright: Barbara Aumüller. In der Bildmitte Rücken an Rücken Guanqun Yu (Aida) und Stefano La Colla (Radamès) sowie Ensemble


Sie begnügt sich vielmehr damit, das ganze Geschehen von der
Rückseite her in Augenschein zu nehmen. Aida zu Beginn zwar
wie bei Neuenfels wieder als Putzfrau, anonym wie die anderen
Dienerinnen und Sklavinnen. Radames als eine Art Hausverwalter
des etwas in die Jahre gekommenen lichtlosen und ziemlich
abgewohnten  bunkerartigen „Palasts“. Mehrere Stufen
tiefergelegt kommt die äußere wie innere Schäbigkeit des
Systems nahezu beklemmend zur Kenntlichkeit. Das ist keine
machtvoll auftrumpfende Großmacht, – das sind die Rudimente
eines ranzig und mickrig gewordenen, giftigen, korrupten und
brutalen Regimes, in dem die Protagonisten mit ihren
individuellen  Empfindungen letztlich von Beginn an keinen Platz
haben. Im Kriegsfall kommt dieses hässliche Fratze der
bröckeligen Macht nur noch krasser zum Ausdruck. Als Ägypten
zum Kampf gegen den äthiopischen Feind ruft, kommt dies einem

kollektiven Doping gleich. Hochdekorierte wacklige Veteranen mit
Sauerstoffgeräten und mit Rollatoren revitalisieren sich
schlagartig unter martialischen Klängen und vibrieren und wippen
mit, dass die Rollstühle nur so wackeln. Im Nu verwandelt sich
nun der Hausmeister Rademes in den Kriegshelden Radames,
wird in viel zu große feldherrliche Klamotten gesteckt und von
jetzt auf gleich unter Standing ovations der senilen High Society
inthronisiert und in den Kampf verabschiedet – sehr zum
Leidwesen des Stubenmädchens Aida, einer geraubten
äthiopischen Prinzessin, die fatalerweise diesen Feind ihres Volkes
liebt. Ebenso wie die Tochter des Pharaos dies tut. Sklavin oder
Prinzessin, Äthiopien oder Ägypten? Mehr an Konflikten geht
nicht. Doch im Siegestaumel geraten aufgewühlte Arien und
herzzerreißende Duette zur Nebensache. Der Hofstaat vibriert,
schäkert und verlustiert sich im Freudentaumel, und Amneris, die
Pharao-Tochter, sieht sich schon als zukünftige Braut Radames .
Doch der siegreiche Kriegsherr Radames, der die Grausamkeit
und Schrecken der Kriegs kennen gelernt hat, ist nicht mehr der,
der er vielleicht nie war. Abgerissen und mit hängenden Schultern
steht er neben der illustren Gesellschaft, die ihn mit Ehrungen
überschüttet. Eine Gesellschaft, an die er den Glauben längst
verloren hat.
Steiers Zugriff gelingt es, die erbärmliche Wirklichkeit hinter den
Fassaden der Macht durchschaubar zu machen. Und die Brutalität,
mit der man die Showseite im Ernstfall mit Klauen und Zähnen
verteidigt. Als er sich zu seiner Liebe zu Aida, der Tochter des
Feindes bekennt, spricht er sein Todesurteil. – und die wackligen
Honoratioren verwandeln sich in Hardliner einer korrupten
Gerechtigkeit. Der Chor in Uniform und Abendrobe wird zum
Resonanzkörper dieser patriotischen Empörung. So vehement,
dass es selbst der düpierten Amneris zu viel wird. Ganz am Ende
scheint sie Rachsucht und Enttäuschung, Wut und Frust von sich
zu schütteln und steht fast nackt vor den Trümmern ihrer eigenen
Existenz. Der Oberpriester verabreicht ihr dezent eine erlösende
Todesspritze. Jener Ramfis, der die ganzen 4 Akte lang, die
Inkarnation des schlechten Gewissens, elegant und indifferent im
schwarzen Anzug das Geschehen fast sprachlos begleitete. Ein
dunkler Schatten, der sich manchmal ob der Lüge dieser kaputten
Gesellschaft fast in Lachkrämpfen wand, um im nächsten Moment
professionell gute Miene zum bitterbösen Spiel zu machen und
energisch für Law and Order zu sorgen. Letztlich überträgt dieser
stumme Diener alle unguten Gefühlsschattierungen, die auf der

Bühne stattfinden, und sich auch bei den Zuschauern breit
machen mochten.
Denn wir erlebten wahrlich keine im üblichen Sinne glanzvolle
Aida – Aber eine erhellende: Selbst das Orchester intonierte
diesen potentiell rauschenden, bisweilen brachialen Verdi eine
Spur weniger auftrumpfend und mitreißend wie üblich. Und der
Heldentenor lavierte gekonnt entlang einer hauchdünnen Grenze
zwischen Triumph und Ernüchterung. Ein Liebes- und Todesduett
am Ende, zwischen zerrütteten und zerstörten Leibern.
Beklommenheit statt Liebestränen – diese auf ihre Art geniale
Aida verlischt einfach und hinterlässt Spuren. Narben. Fragen.

Cornelie Ueding