Joshua Sobol: Der große Wind der Zeit (Schauspiel Stuttgart: Uraufführung 24.Februar 2024)

Paula Skorupa (Eva), oben: Camille Dombrowsky (Libby), Max Braun (Live-Musik), Foto: Katrin Ribbe

Wohlwollender und dankbarer Gesinnungsapplaus belohnte zu
recht diese überaus präzise  platzierte Uraufführung
zum Thema des immerwährenden Krieges zwischen den
Palästinensern und Israel.
Altmeister Sobols großer Roman aus dem Jahr 2021 diente
dabei als Vorlage für ein auf gut zwei Stunden zusammengestutzes Theaterstück. Eine Verschlankungskur, diediesem Werk nicht gut getan hat. Im Roman verwebt Joshua Sobol die Lebensfäden von zwei
Dutzend Personen, die einander brauchen, sich betrügen und
belügen. Ungeschützt lässt er die Figurenin witzigen, sarkastischen Dialogen aufeinander los und
verschränkt dabei die Vergangenheit der 20er, 30er Jahre mit
der Gegenwart. Abgebrüht und egomanisch, rücksichtslos und
skrupellos sind sie fast alle. Es macht großen Spaß, ihrem Witz
und ihrer Vitalität im Roman zu folgen und en passant eine
ganze Lektion in Sachen Geschichte des Landes Israel zu
lernen. 
Anders im Theaterstück, wo genauso dieser Witz nur mehr in
Spurenelementen vorhanden ist, dafür eine Art Repertorium
vom Zionismus bis zum Holocaust auf dem Lehrplan steht. In
der Tat muten manche Dialogpassagen wie Teile eines
Lehrstücks an. Da nutzt es nichts, wenn man wie die quirlige
Hauptfigur Libby ständig den blonden Haarschopf zerwühlt oder
wie die militante Tänzerin Ewa minutenlang in rhythmische
Zuckungen verfällt: Im wesentlichen lässt das Stück den
Betrachter so kalt wie Brecht sich das nur hätte wünschen
können, obwohl die Grundidee wirklich spannend sein
hätte können.
Libbys Lektüre des Tagebuchs ihrer Urgroßmutter wird zum
Eyeopener für ihr eigenes Leben —  aber die
doppelgängerische Verwandlung in ein alter ego bleibt
bloße Behauptung:  Das Gespräch der ehemaligen israelischen  Spezialistin für Verhöre Libby mit einem zu Unrecht verdächtigten
palästinensischen Studenten mutiert zu einer Arakademischem Gedankenaustausch über pro und contra Israel.
Innerhalb weniger Minuten verwandelt sich die hartgesottene
Inquisitorin in eine nachdenkliche, sichtlich angefasste
Zivilistin, die folgerichtig spontan den Militärdienst quittiert und
sich auf historische Spurensuche begibt: Sie nistet sich im
Dachboden ihrer Urgroßmutter Eva ein, die Anfang des 20.
Jahrhunderts nach Palästina gekommen war, durchstöbert
deren Tagebücher und entdeckt eine mutige damals sehr junge
Frau. Die eine Ausbildung zur Tänzerin ausgerechnet im
präfaschistischen Berlin absolvierte. Spät aber gerade noch
rechtzeitig durchschaut sie den Schwindel und den sich
anbahnenden Antisemitismus und erteilt vor ihrer Rückreise
ihren wohlsituierten Eltern eine reichlich klischeehafte
Privatstunde in Sachen Bestialität der Faschisten – was sie aber
nicht hindert, sich erstaunlich lange in Berlin mit einem Nazi
einzulassen. Nach Israel zurückkehrt wird aus der Künstlerin
eine Kämpferin, während  Libby – ganz im Banne der
großmütterlichen Vita – gleichsam in ihrem mentalen
Windschatten, weiter und weiter recherchiert: bis Ihr
schnoddriger  jüdischer Großvater, der sich als lässiger Biker
gibt, seine früheren Untaten im Krieg gegen die Palästinenser
 gestehen muss – und mehr noch: an den „Tatort“ geführt wird,
um dort noch einmal das palästinensische Mädchen, das er
damals verriet zu treffen. Am Ende dieses modellhaften
Aufarbeitungsprozesses stehen sich zwei verdatterte Ruinen
einer versäumten Liebe – sie deportierte  Palästinenserin, er
Jude und Deporteur – fremd und in die Jahre gekommen,
zärtlich  und leicht sentimental gegenüber. 
Zugegeben, es ist nicht einfach einen solch gewichtigen Roman
auf einen Theaterabend herunterzukürzen. Aber wenn alles,
was die Figuren und Situationen interessant und doppeldeutig
machen könnte, wegfällt, der schwarze Humor, der im Roman
die Gefühle der Figuren grundiert erlischt, erlischt damit
einfach auch das Interesse und das Ganze wird recht blutleer.
Und dies bei einem Stück, in dem so viel sinnlos vergossenes
Blut fließt… Ein Verlust, der nicht zu Lasten der extrem
engagiert agierenden SchauspielerInnen geht, sondern auf das
Konto der schwachen und einfallslosen Regie von Stephan
Kimmig. Am Ende dieser Weltkriege-Erfahrungen (besonders im
zweiten Teil des Abends) stehen nur noch
nichtssagende, plakative Fertigdialoge. Die sind so steril wiedas gigantische moderne Beton-Gebäude auf der Bühne: Kein Lebensraum, keine Behausung – nur gewaltig drehend, bedeutungsvoll verlangsamt und die wechselnden Einblicke bleiben gleichfalls nichtssagend.
Ergriffen vom Thema achtete das Premierenpublikum
möglicherweise nicht auf derartige Defizite. Und um der Sache
willen mag es damit sein Bewenden haben. Zu weiterer Kritik
ist die derzeitige politische Situation zu prekär. 
Cornelie Ueding