„In meinem Stück werden nicht die Stände, sondern der Missbrauch jedes Standes angegriffen“, schreibt der Beaumarchais, Autor der Komödie „die Hochzeit des Figaro“ über sein Stück.
Es könnte die Generalformel für dieses herausragenden Frankfurter „Figaro“ sein. Es bedarf Einiges, um aus dieser wahrhaftig bis zum Exzess erfolgreich ausgespielten Oper des Duos Erfolgsduos Mozart /Daponte neue, überraschende Funken zu schlagen. Und Regisseur Tilmann Köhler gelang dieses Kunststück in kongenialem Zusammenspiel mit GMD Thomas Guggeis. Im Grunde greift er die eingangs zitierte Formel auf und verfolgt sie konsequent und virtuos bis in die letzte Konsequenz. Figaro ist hier kein mutiger Vorkämpfer des Guten, der Moral, der Tugend mehr ebensowenig wie Graf Almaviva das übliche – allzu vertraute – Klischee des skrupellosen, aristokratischen Verführers bedient.
Figaro ist zwar noch immer gewitzt und reaktionschnell , doch alles andere als ein erfolgreicher Repräsentant einer bürgerlichen political correctness. Wann immer er denkt, er sei besonders schlau, erweist er sich weit mehr als nur dummschlau und gerät in die Fänge seiner eigenen Falle. Sein Gegenspieler , Graf Almaviva, gibt sich in seinem violetten Outfit zwar apart und siegesgewohnt lässig und dominant- laviert aber haarscharf entlang einer veritablen Blamage, die aus der Pose der Überheblichkeit hilflose Rachefantasien werden läßt.
Doch nicht nur die beiden Protagonisten oszillieren zwischen scheinbarer Überlegenheit und erbärmlicher Hilflosigkeit – das gesamte Personal dieses verrückten Intrigantenkarussells balanciert haarscharf zwischen Pose und Banalität: selbst die Gräfin ist davon nicht ausgenommen. Köstlich, wenn sie die unschuldig tief Gekränkte gibt und die Szene und den Liebesreigen um sie her mit schellen , verschlagenen Blicken amüsiert verfolgt. Ebenso wie die heimliche Heldin, die schlaue Dienerin Susanna, regelmäßig in Situationen gerät, die die Maske der pfiffigen Schlag- und Spielfertigkeit arg in Rutschen bringt und das Spiel ausser Kontrolle geraten läßt.
Seit Schiller weiß man zwar: der Mensch ist nur da Mensch wo er spielt und er spielt nur da, wo er Mensch ist – Aber in diesem Figaro kann er erleben, daß das Spiel mit dem schönen Schein bisweilen eine Eigendynamik entwickeln kann, die die Akteure geradezu vor sich hertreibt und aus der Bahn wirft. Der Grund für diesen Kontrollverlust ist relativ klar, denn man soll eben nur mit dem Spiel spielen und man soll mit ihm auch nur spielen. Verstößt man gegen diese Regel entgleitet den Betroffenen sowohl das Spiel wie auch die Wirklichkeit.
Und genau dies passiert hier. Existenzielle Probleme, moralische Prinzipien, Starke Gefühle lassen sich nur bedingt mit spielerischen Mitteln lösen: Das virtuose Team um die Frankfurter „Spielleitung“ führt genau diesen Effekt aus unangestrengt leichte, fast tänzerisch anmutende und höchst an-mutige Art und Weise vor. Immerhin , wir sind mitten im vorrevolutionären 18. Jahrhundert und diesen ganz besonderen Konversationsstil zwischen gespielter Ernsthaftigkeit , gekonnter Schauspielerei und vieler kleiner und größerer Lügen gewohnt. Lügen, von denen auch jeder augenzwinkernd weiß, daß es Lügen sind …
Deshalb ist es gut, daß die Regie gar nicht erst versucht, diesem Spiel um Liebe und Rache einen ganz ernsthaften Boden zu beben, sondern alles , auch die Momente der Versöhnung in der Schwebe läßt. Ebenso wie es gut und richtig ist, sich nicht im mehr oder weniger lockeren Getändel zu verlieren und auf groupiehafte Heiterkeit zu setzen. Es mag schwierig erscheinen, diese Balance zu halten. Aber hier gelingt es, wobei stimmlich bewegliche und starke sängerische Momente, ein federnd nuanciertes, auf das Herausmodellieren von Ambivalenzen zielendes Dirigat und ein gleichermaßen stringente und abstrakte Kulisse phantastisch ineinandergreifen: im beweglichen Raster auf- und zuschminkender Türflügel tauchen die Figuren für Momente, die Dauer einer Arie, einer Szene auf, um wenige Momente später wieder zwischen diesen Wänden, die keine Wände sind, geräuschlos und spurlos zu verschwinden.
Ein virtuoses Vexierspiel permanenter Verwandlungen , die Fragen nach Eindeutigkeit fast als absurd erscheinen läßt: Der große Test auf die Treue des jeweiligen Partners , der Partnerin – wer möchte entscheiden ob er wirklich Ernst gemeint ist? Die finale Versöhnung am Ende – wer würde an sie, in diesem Irrgarten der echten und gespielten Empfindungen so recht glauben. Das Team um Thomas Güggeis und Timo Köhler hat ganz sicher nicht versucht, am Ende großes Erlösungsspektakel zu inszenieren – eher verhalten Freude darüber , daß alles gerade noch einmal halbwegs gut ausgegangen ist.
Und inmitten in dieser sehr menschlichen Menagerie der Doppeldeutigkeiten – gleichsam als Symbolfigur ein im innersten zerrissener sechzehnjäherer erotischen Traumtänzer, Cherubino , der weder so recht weiß wer er ist noch was er mit seinen Gefühlswallungen will, und der dennoch letztlich von allen geliebt wird- freilich in der alt eines libidinösen Kuscheltiers, einer Puppe, mit der man fast nach Belieben spielen kann …
Cornelie Ueding