Oper Frankfurt: Don Giovanni (2023)

Brenda Rae (Donna Anna) und Christian Gerhaher (Don Giovanni). © Oper Frankfurt

Dem phantastischen jungen Gastdirigenten James Handry und den wunderbaren Sängern ist es zu danken, dass die Wiederaufnahme von Christoph Loy’s Don Giovanni-Inszenierung aus der Spielzeit 2013/14 noch immer ein großer musikalischer Genuss ist. Denn Handry verleiht dem Orchester jene innere  Dynamik, die für Mozarts Ritt durch diese Hölle der Gefühle notwendig ist. Auch die Stimmen der Sängerinnen überzeugen, allen voran Donna Elvira, die den Spagat zwischen Furor und Hingabe glänzend meistert. 

Doch ansonsten merkt man ein wenig, dass die Zeit eben doch nicht ganz spurlos an der diesem „Don Giovanni“ vorübergegangen ist – und wie sehr sich die Operninszenierungen in den letzten Jahren verändert, verdichtet haben. Das betrifft die seltsam statuarische Hauptfigur selbst, deren mythische Verführungskraft  (trotz historisierender Slevogt- Kostümierung) in keinem Moment zum Tragen kommt – im Gegenteil, am Ende des Abends wankt ein sichtlich mitgenommener Greis ins feurige Finale. 

Dieser rapide Alterungsprozess mag sicherlich ein zumindest interessanter Regieeinfall gewesen sein. Doch dass die Inszenierung im Ganzen ein wenig lendenlahm über die Rampe kommt, war sicher nicht die Absicht dieses „Don Giovanni“. Und das zunehmend, je länger der Abend dauert. Denn genau genommen wirkt die monumental leere, aber an gewaltigen Türen und Fensterklappen (die immer mal wieder etwas geöffnet und stets weder geschossen werden) reiche Bühne in ihrer Öde eher trist als auf überzeugende Art  schäbig, ruinös und veraltet. 

In den letzten neun Jahren haben sich Opernaufführungen sehr verändert, und Theater- und Operngänger haben verstanden, dass der Raum mitspielt. Hier bleibt er einfach nur – Hintergrund. Symptomatisch auch für die innere Mechanik dieser irgendwie in sich erstarrten Oper, die aller Dynamik zum Trotz allmählich in Gefahr geriet, zu einer Favoritin der Philosophen und Intellektuellen  zu werden: Bloch, Kierkegaard, Nietzsche, Ortega y Gasset – keiner, der sich nicht von diesem mysteriösen Serienliebhaber angezogen gefühlt hätte. Die eigentliche Pointe, dass nicht seine Stärke und Dominanz ihn auszeichnen, sondern die Schwäche und Unentschiedenheit seines Umfelds ihn groß erscheinen lässt, wurde dabei meist übersehen. Im Grunde ist der „Don Giovanni“ letztlich ein hinreißend melodisches  Szenarium des kollektiven Versagens, was die Kunst der Rache anbelangt, die ununterbrochen in allen Tonlagen beschworen wird, aber dennoch Wunschdenken und Fantasie bleibt. Ob die majestätische Donna Anna, die unglückliche Elvira, die naiv-durchtriebene Zerlina oder der bestürzend inaktive, allenfalls pathetisch auftrumpfende Don Ottavio – keinem von ihnen gelingt auch nur eine überzeugende Gegenaktion: Ein Häufchen Scheiternder schafft überhaupt erst den Koloss auf tönernen Füßen, als der sich Don Giovanni, im Zeitraffer gealtert, endlich mit letzter Kraft über die Bühne schleppt. Es müsste zwischen dem Jäger und den Gejagten, den ihrerseits zu Jägern werdenden Opfern und ihrem Objekt permanent knistern, es müsste sich irgendetwas Nennenswertes abspielen — doch genau dieser Funke fehlt in der Wiederaufnahme. Und das überträgt sich bedauerlicherweise auf die Inszenierung im Ganzen. Die „Verführungsszenen“ wirken hölzern, die Racheversuche scheitern auf eher lächerliche Art: die Bauern um Zerlina und Masetto wirken wie die wackeren Sieben Schwaben, man fuchtelt linkisch mit Pistolen, steht meist fast berührungslos nebeneinander und klagt elegisch über die eigenen Gefühle oder Gefühlsdefizite. 

Auch das große Finale mit der berühmten Verweigerung, dem entschiedenen „No“ des Protagonisten wirkt eher so, als hätte er weder Kraft noch Lust zum Widerstand. Der Heros ist, man muss es sagen, genauso gealtert wie diese an sich schöne Aufführung. 

Cornelie Ueding

Händel: HERCULES Oper Frankfurt Premiere 30.4.2023

Anthony Robin Schneider (Hercules). Copyright: Oper Frankfurt

Musikalische Leitung: Laurence Cummings, Regie: Barrie Kosky

Der Raum könnte unpersönlicher, weltabgewandter und farbloser nicht sein: weder Türen noch Fenster. Einsam und völlig von einer Art Trauerflor umhüllt sitzt Dejanera, Hercules Frau, in diesem öden Raum,  tieftraurig und voller Sehnsucht nach ihrem verschollenen Gatten – der paradoxerweise neben ihr sitzt, in Denkerpose – freilich: reglos und in versteinerter Form. Ein Denk-Mal in Lebensgröße. Ein Dummy seiner selbst.

Bei Heroen liegt das nahe, denn wirklich realiter existieren diese ja oft nur als marmorne Stand- oder eben Sitzbilder. Um ihn her Trauer, Verzweiflung, dann schließlich frohe Kunde seiner Rückkehr – und beständig sitzt der steinerne Gast starr, muskelbepackt und ein wenig hochmütig auf dem Sofa, als ginge ihn das alles nichts an. Auch als schließlich, kaum mehr erwartet, der echte Herkules mit schwerem Soldatengang hereinstampft, kümmert dies den Avatar in keiner Weise: Idol und Mensch haben wenig miteinander gemein. 

Umso mehr schwebt Dejanera auf Wolke sieben als ihr Superheld sie endlich in die Arme schließt. Ein Happy End wie aus dem Bilderbuch – wäre da nicht in seinem Schlepptau die junge, aparte Iole, geraubt und mitgebracht als Beute von seinem letzten Triumphzug. Dejanira wittert – ob berechtiget oder nicht: Verrat! Sie verzweifelt, gerät in Wallungen, ja wird wahnsinnig vor Eifersucht. Letzter Ausweg: das sprichwörtliche Nessushemd – ein giftiges Danaergeschenk, von dem sie gutgläubig annimmt, es würde den vermeintlich Treulosen wieder zu ihr zurückbringen. Ein fataler Schachzug: das vergiftete Hemd verbrennt Hercules bei lebendigem Leibe.

Was sich so – rein vom Inhaltlichen her  – etwa grobschlächtig anhört, wird in diesem fast vergessenen, dramatischen Oratorium unter der Regie von Barrie Kosky  zu einer suggestiven psychologischen Oper. Wobei der Titelheld als unbewegtes Standbild eine merkwürdige Nebenrolle im Abseits spielt. Um ihn her tosen Leben, Liebe, Eifersucht und Verwirrung – ihn selbst scheint das alles kaum zu tangieren, geschweige denn wirklich zu berühren. Wozu auch – er ist ja ohnehin Mittelpunkt der Verehrung und des Begehrens, ganz gleich, ob er sitzt oder wie im zweiten Teil in heroischer Marmorpose herumsteht. Oder sich – ganz am Ende – schon entrückt im Götterhimmel, förmlich in Rauch auflöst!  Umso mehr Spielraum bleibt den anderen Figuren – vor allem der Dejanira, die sich aus der anfänglichen Starrheit  lösend,  mehr und mehr in Rage singt und spielt.

Wer hier mehrere Stunden lang stimmlich und körperlich miterlebt, wie diese Frau nahezu lustvoll im Rausch der Eifersucht zu emotionaler Höchstform aufläuft und verglüht, kann begreifen weshalb so viele Dramen und Opern des Barock immer wieder um diese eine Thema  kreisen: Wie kann man Leidenschaften und  Passionen bändigen. Extreme Gefühle, die das Individuum von sich selbst wegreißen und die Umwelt in Trümmer legen. Wobei im Fall von Dejaniras Eifersuchtswahn offen bleibt, ob er begründet oder unbegründet ist.

Der Psychopathologie der Emotionen ist der Wirklichkeitsbezug egal. Und die wunderbare Mezzosopranistin Paula Murrihy zeigt als Dejanira, wie diese sich um der Affekte willen in ein Gefühls-Delirium hineinsteigert. Es ist dieser Drehschwindel, der bis in die von dem erfahrenen  Barockspezialisten Laurence Cummings  federnd dirigierten, vibrierenden Streicher reicht, der die zum Zerreißen gespannte Stimmung auf der Bühne überträgt. Ganz abgesehen von der auf Distanz angelegten Körpersprache der brillanten Stimmen: Dabei sind die innerlich angespanntesten Momente jene, in denen sich die jeweiligen Protagonisten in einem bühnenbreiten Abstand voneinander gegenüberstehen.

Besonders wenn Dejanira ihre eifersuchtsgrundierten ersten Salven abfeuert: ihren Helden frozzelnd umtänzelt,  ihn ironisch provoziert. Dann, ganz allmählich, entfesselt sich ihre Stimmung zu wütender Verzweiflung und hält zielgerichtet auf das tragisch Ende zu. Ob sie wirklich glaubt, durch das giftige Nessos-Hemd, das sie ihrem Gatten als Versöhnungsgeschenk zukommen lässt, seine Liebe wieder zu gewinnen, bleibt in der meisterlichen Regie von Barrie Kosky ebenso in der Schwebe wie der Verdacht, dass sie ihm das todbringende Gewand womöglich doch arglistig zukommen lässt. Egal: die grandiose Trauer-Ekstase steht dem vorangegangen Eifersuchtswahn in nichts nach.

Am Ende liegt die unfreiwillige Rächerin wie tot, entfesselt hingestreckt am Boden. Sie ist und bleibt in ihrer Not  ganz allein – doch auch der als „Gruppe“, bisweilen Meute  auftretende  Chor zeigt in jeder seiner grandiosen Szenen vor allem eines: die Distanz der Figuren zueinander – egal, in welcher Stimmung sich diese große Zahl von Einzelgängern zusammentut: Ob sie in der undurchschaubaren Finsternis  mit  düster-schönen Lichteffekten spielen oder sich als  Kommentatoren oder „Entertainer“ anzudienen scheinen …

Es wäre freilich kein Händel-Werk, wenn nach dem tragischen Showdown nicht eine erlösende didaktische Lehr-Einheit alles wieder zurecht rücken würde: Diesmal durch den sedierenden Bariton eines Jupiter Priesters, der die Ehre hat, dreierlei feierlich  zu verkünden: Zum einen ist der grausam verbrannte Held mittlerweile von Jupiter in himmlische Gefilde aufgenommen worden. Kein blutiger Kadaver, sondern eine im Rauch entzündeter Ofenfeuer verschwimmende Marmorstatue repräsentiert ihn. Zum anderen findet die von Anfang an sehr wacklige Liebe zwischen dem etwas jämmerlichen Sohn des Helden und dem Beutemädchen eine Art  – vorläufiges – Happy End. Und schließlich erwacht die zur Witwe gewordene Dejanira von den Toten und sinkt schmerzvoll in tröstende Umarmungen.  

Aber dieses Happy Ending ist nun bewusst so hölzern und pflichtschuldig angeklebt, dass keiner diesen konventionell beruhigenden Schluss wirklich ernst nehmen soll.  Was bleibt, ist eine zugleich schwerelos leichte und ergreifend wuchtige Gesamtstimmung, die diesen Opernabend zu etwas ganz Besonderen macht. 

Händel: Orlando (Oper Frankfurt)

Zanda Švēde (Orlando; in heller Kleidung) mit Tänzer*innen. © Oper Frankfurt

Wenn es doch immer so schön und einfach zuginge wie in der Oper. Rasend vor Wut und Eifersucht ersticht der enttäuschte Liebhaber erst den Rivalen, dann die untreue Geliebte. 

Als er dann – entsetzt über die schrecklich Tat – im Begriff ist, Hand an sich selbst zu legen, kommt der wundertätige Herrscher Zoroaster auf die Bühne und erklärt: Das alles war nur ein kleines Experiment, inszeniert vom  „Spielleiter“ – um seinem liebestrunkenen Helden den Irrwitz seiner amourösen Verstrickungen vor Augen zu führen …

Und schon springen die vermeintlichen Opfer auf, erkennt der Held seinen Wahnsinn und  alle stimmen einen kleinen Triumphgesang auf die wieder- errungene Vernunft an. 


Die Wirklichkeit, auch die Wirklichkeit dieser brillanten Frankfurter Inszenierung sieht anders, sehr viel ambivalenter aus, obwohl die Handlung – nimmt man den ganzen mythologisch-phantastischen  Bombast der Vorlage Lodovico Ariosts und des Librettos   weg – einigermaßen platt  ist.  Da erscheinen zwar christliche und heidnische Könige und Ritter, schöne, teilweise auch kämpfende Damen, Zauberer und Zauberinnen und Fabeltiere. Doch im Kern verbirgt sich hinter dem pittoresken Gewimmel um jede Menge Liebeswirren und Enttäuschungen doch nur eine Geschichte, die man mit Heinrich Heine auf die schlichte Formel bringen könnte: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen. Die hat einen Andern erwählt. Der Andre liebt eine Andre, und hat sich mit dieser vermählt“. 

Freilich:  die Art und Weise, wie der amerikanische Regisseur Ted Huffman und sein musikalischer Leiter Simone di Felice mit diesen „an sich“ banalen Gefühlswirren umgeht, ist frappierend und mitreißend. Vor allem auch,  weil es der puristischen Inszenierung gelingt, Händels musikalische Innovationskraft, sein Faible für dramatische Ambivalenzen und Extremsituationen, sein virtuoses Changieren zwischen Tragik und Groteske markant in den Vordergrund zu rücken. Die Untiefen menschlicher Gefühle, ihr lustvolles Außer-Kontrolle-Geraten, ihre Verkapselung in sich selbst, ihr tiefes Verstehen, ihr abgrundtiefes Sich-Missverstehen: All dies drückt hier die Musik und weit weniger der Text des Librettos aus. 

Der Frankfurter Orlando überzeugt freilich nicht nur wegen seiner musikalischen Sensibilität, sondern auch aufgrund der konzeptionellen Geschlossenheit auf allen Ebenen: Von den herausragenden Sängern und Sängerinnen (v.a. Monika Buczkowska als Dorinda), bis hin zum Bühnenbild, das hier außergewöhnlich aktiv mitspielt. Immer wenn die Figuren in den Irrwegen der Leidenschaft jede Orientierung zu verlieren drohen, setzt sich auch das auf der Bühne aufgebaute Drehkreuz mit Wänden aus flatternder Tuchbespannung in rasend kreisende Bewegung: In dem Maße, wie die emotionale Orientierungslosigkeit der Figuren unfassbar wird, löst sich vor den Augen des Publikums auch der Raum auf. Er scheint sich ins Grenzlose zu erweitern, wild wechselnde Bildprojektionen sind ebenso schön wie irritierend – und ja: bedrohlich. Denn die Zuschauer erleben optisch die Auflösung des bisher als bekannt/vertraut geltenden Spiel- und damit Lebens-Raumes. So erfahren auch sie geradezu körperlich, was die von Gefühlen erfassten, überwältigten Figuren umtreibt. Dazu kommen die Schattenrisse der Tänzer, die die jeweiligen Situationen und Gemütszustände der Protagonisten kontrapunktisch begleiten und wortlos kommentieren.

vorne Monika Buczkowska (Dorinda) und hinter der Gaze Tänzer*innen. © Oper Frankfurt
vorne Monika Buczkowska (Dorinda) und hinter der Gaze Tänzer*innen. © Oper Frankfurt

Wenn schlussendlich durch Zoroastro der Bann dieses drastischen Menschenexperiments wieder gebrochen wird, nach dem Motto “es war nur ein Experiment“, löst sich dennoch nicht alles in Wohlgefallen auf. Zwar stehen Orlandos Opfer wieder von den Toten auf als wäre nichts geschehen, und der paranoide Rausch des Begehrens des Helden scheint fürs erste gestillt. Dennoch ahnt man –  die dunklen Spukgestalten, die die Figuren umgaukeln und umschweben deuten das an –, dass dies nur auf der Oberfläche als ein Happy End zu sehen ist. Die Verwundungen und Verstörungen der traumatisierten und verquälten Seelen werden im Untergrund und im Inneren weiter ihr Unwesen treiben – und dadurch manipulierbar bleiben.

Cornelie Ueding

Benjamin Britten: A Midsummer Night‘s Dream

Um es vorwegzunehmen : Brigitte Fassbaenders Frankfurter Inszenierung der Oper von Benjamin Britten geriet zu einer fulminanten und anrührenden Hommage an das Theater: minutenlange Standing ovations des überwältigten Publikums bei der letzten Vorstellung bezeugen dies eindringlich. 

Von Szene zu Szene begann sich der Raum zu weiten: Aus einer kleinen Styroporidylle zu Beginn wurde ein stufenförmiger  Zauberbergs-Katarakt, schließlich öffnete sich die Bühne  nach außen und die Akteure sammelten sich unter Pucks Regie zu einer fast feierlich anmutenden Schlussprozession.  

Dazwischen Theater pur in nun wirklich allen seiner Facetten, wobei neben dem verspielten Puck (Frank Albrecht) mit frecher Hahnenkammhaube ein androgyn-manierierter Oberon (Cameron Shahbazi) als  magischer Spielführer mehr und mehr  im Mittelpunkt der Szene steht: Er umtänzelt geziert die in Traum gefallenen Opfer seiner Rachestrategie, seine Titania, den aufs Erschreckendste und Lächerlichste mutierten Quince (Magnús Baldvinsson), die chiliastisch vertauschten Liebespaare…

Willkür, Zufall, Zauber, Magie und unterbewusste Regungen lösen im Verlauf des zugleich makabren wie urkomischen „Spiels“ jede Ordnung auf.  Grenzen werden überschritten, Undenkbares  wird Wirklichkeit.  Wobei der in ein überdimensionales Arschgesicht (statt in den notorischen Esel) verwandelte Quince den humoristischen Vogel abschießt. Spätestens in den Szenen, in denen sich die

liebestrunkene Feenfürstin und der grotesk verwandelte Handwerker  erotisch finden, scheint der Knoten  zu platzen und die Zuschauer beginnen lachend zu begreifen, dass auch sie dabei sind sich zu verwandeln. Aus seriös distanzierten Betrachtern werden hingerissene Verfolger eines mutwilligen aber dennoch liebevoll arrangierten Experiments mit Menschen. Auf und vor der Bühne. 

Flankiert von den melodischen Dissonanzen der

bisweilen gequetschten, dann wieder aufbrausenden und aufheulenden Musik Brittens unter Leitung von Geoffrey Paterson werden alle Ambivalenzen der Empfindung ausgelotet und spürbar gemacht. Bitterer Ernst und tierischer Klamauk, tragische Momente und wieherndes Gelächter durchdringen einander auf diesem Karnevalsfest der Willkür und der unbegrenzten Möglichkeiten. 

Als dann auch noch die theatralische Handwerkertruppe ihr Spiel im Spiel um das tragische Schicksal von Priamos und Thisbe zelebriert, feiert das Theater im Theater einen seiner größten Triumphe: Die Schauspieler werden zu Trapezkünstlern an der Kippe zwischen größter Lächerlichkeit und einem Anflug von Würde. Wer so ernsthaft spielt, überwindet jede Form der möglichen Verachtung und Diskreditierung. Als der verwirrende Traum dieser Mitsommernacht vorbei ist und die Akteure wieder in ihre angestammten Rollen zurückkehren, tun sie dies dennoch unter veränderten, erfahrungsgesättigten Vorzeichen – sie sind nicht mehr die, die sie vor der großen Verwandlung waren. Und – vielleicht noch wichtiger: Für einen köstlichen Augenblick erscheint die Kluft zwischen den Klassen und Geschlechtern aufgehoben. 

Umberto Giordano: Fedora. (Oper Frankfurt)

Ein französisches Bühnenstück von Victorien Sardou über die fatale Rache einer russischen Fürstin verwandelt sich durch den Komponisten Umberto Giordano in ein „Melodramma“. Orte der Handlung: St. Petersburg – Paris – die Schweiz. Eine wahrhaft Europäische Oper aus der Zeit um 1900, die da zu uns herüberklingt: Aus einer Zeit, in der Russland noch wie selbstverständlich zum europäischen Kulturkreis zählte und die Akteure gleichermaßen in St. Petersburg wie in Paris verkehrten. Ein Hauch von Anna Karenina-artiger Leidenschaft und Fatalität, in deren Mittelpunkt die junge, mondäne Fürstin Fedora (Nadja Stefanoff) steht, liegt denn auch über dem Ganzen. Von Beginn an. Bereits nach wenigen Takten schlägt das Schicksal zu, und was als festlicher Opernbesuch am Vorabend der geplanten Heirat mit dem jungen Wladimiro gedacht war, wird innerhalb weniger Minuten zum Schreckensszenarium: Tödlich verwundet wird der Bräutigam in spe ins Haus gebracht – Fedora wird Zeugin der ersten Untersuchungen – und des Todes des Geliebten. 

Und in Minutenschnelle entsteht ihr Racheplan: Graf Loris (Jonathan Tetelman), der Hauptverdächtige für den Mord, muss zur Rechenschaft gezogen werden.

Szenenwechsel: Paris. Fedora beginnt sich mehr und mehr in dem von ihr selbst geknüpften Rachenetz zu verfangen: Ihr Versuch, die Wahrheit zu ermitteln, indem sie ihren vermeintlichen Todfeind, eben diesen Grafen Loris, gleichzeitig stellt, verfolgt, betört und aushorcht, erweist sich als kontraproduktiv. Der Mörder ihres Verlobten betet Fedora inzwischen an, und auch sie gerät mehr und mehr in seinen Bann. Eine fatale, chancenlose Liebe. Denn gleichzeitig setzt sie das Räderwerk der Rache mehr und mehr in Gang, schaltet Polizei und politische Kommissäre ein, um Loris (an dessen Schuld sie noch immer glaubt) zur Rechenschaft zu ziehen. 

Als sie die Wahrheit erfährt – dass Loris ihren (was außer ihr offenbar alle

anderen wussten) untreuen Verlobten aus durchaus legitimen Gründen ermordete – ist es zu spät und nur die Flucht kann beide retten. Vorübergehend. Denn längst hat sich die Maschinerie der politischen Institutionen in Gang gesetzt und den Fall zur ihrem Fall gemacht. Sie wird sich nicht mehr stoppen, allenfalls suspendieren lassen. In der Schweizer Idylle werden beide grausam vom System eingeholt: Loris realisiert, dass er seinen Bruder ins Verderben gerissen hat und verwirft sein ganzes Leben. Fedora setzt ihrem Leben auf offener Bühne durch Gift ein Ende. 

Die vielbeschworene Macht des Schicksals?  Christof Loy zeigt in seiner Inszenierung etwas anderes: Figuren, die – all ihrer Gerissenheit und Routine zum Trotz – nie ganz auf der Höhe der jeweiligen Situation sind. Der Zuschauer weiß sehr viel mehr als die Akteure — und diese Asymmetrie der Informationen verleiht diesem auch musikalisch spröden Melodrama einen zusätzlichen Reiz. Atemlos und gebannt ahnt man die Abgründe, die sich von Szene zu Szene weiter öffnen und die Figuren vor sich hertreiben. 

Jedes Duett, auch die schönsten Belcanto-Momente münden in eine von Dirigent Lorenzo Passerini virtuos gesteigerte bedrohliche Melodik, so dass selbst heitere Momente, meist im Zusammenhang mit der gleichermaßen vitalen wie naiven Olga, vor diesem durchgängig bedrohlichen Hintergrund verblassen. Dass die Schweizer Idylle eine Ruhepause auf Zeit ist, teilt sich jedem mit. Und jeder der vielen von außen übergebenen Briefe wird zum Sprengsatz für die mühsam aufrecht erhaltene emotionale Balance. 

Man hat den Staatsapparat aktiviert, ohne dessen Konsequenz ins Kalkül zu setzen. Der Tod des Zaren wirkt bis ins Innere der intimen Verhältnisse. Bereits im Russland dieser vorrevolutionären Zeit gärt es, und alles noch so Private wird zum Politikum. Auch wenn die Kräfte der Politik im wahrsten Sinn ausgeblendet werden, sind sie omnipräsent und auch der feudale Salon wird zum Tribunal.

Deshalb sind die erhellendsten Momente dieser fesselnden, klugen Inszenierung jene Szenen, in denen mehrere Handlungsebenen visuell übereinander gelegt werden. So sieht man im ersten Akt Fedora auch,

wenn sie nicht auf der Bühne ist, als Video in Nahaufnahme auf der großen, die Bühnenrückwand beherrschende gerahmte Projektionsfläche (Bühnenbild Herbert Murauer), stumm, zerrissen ebenso von Jammer und Entsetzen über den Mord an ihrem Verlobten wie über seinen Charakter.

Später, wenn in einem Hinterraum der Bühne in der offiziellen Gesellschaft high life herrscht und sich ein polnischer Klaviervirtuose feiern lässt, kommt es zwischen Fedora und Loris im Bühnenvordergrund zu einem entscheidenden Gespräch: Und aus Strategie wird Liebe. Draußen aber macht bereits die Kunde von der Ermordung des Zaren die Runde, die alles verändert. Und eine „harmlose“ Intrige wird zum Staatsverbrechen. 

Cornelie Ueding

GIOACHINO ROSSINI: BIANCA E FALLIERO. (Oper Frankfurt 11.3. + 26.3. 2022)

v.l.n.r. Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca), Božidar Smiljanić (Doge von Venedig) und Kihwan Sim (Capellio). Copyright: Barbara Aumüller

Eine Opernerfahrung der besonderen Art. Der erste Versuch Bianca e Falliero zu sehen, endete mit einer Überraschung: Der Doge, der machthungrige Vater, ein Teil der Verschwörer – sie alle waren Corona positiv und fielen an diesem Abend aus. 

Manch andere Oper hätte möglicherweise die Vorstellung abgesagt und das Publikum mit ein paar tröstlichen Worten nach Hause geschickt. Nicht so die Frankfurter Oper. Binnen kurzer Zeit entschloss man sich, ein konzertantes Opernkondensat mit den verbliebenen Akteuren aus dem Hut zu zaubern. Ein riskanter Versuch, der auch hätte misslingen können. Doch diese „Verkürzung“, “Fragment einer Oper“ wurde zu einer Erfahrung der ganz besonderen – und auch erheiternden Art.

Dirigent Giuliani Carella blätterte vor jedem neuen Bild mit komischer Verzweiflung in der Partitur, drehte sich dann wieder, schelmisch lächelnd, zum Publikum und sagte jede Nummer einzeln an…

Auch wenn die Titelfiguren gelegentlich etwas verunsichert nach ihrer Position auf der leeren Bühne suchen mussten – man begriff, ja fühlte mit jeder Arie, jedem Duett mehr, worum es im Kern ging: Zwei Liebende, die durch Machtspiele und politische Intrigen nach Belieben auseinandergerissen wurden – fanden wieder zueinander. Der siegreiche venezianische Feldherr Falliero und Bianca, die Tochter des venezianischen Senators, werden zum Spielball der strategischen Interessen der Politprofis.

Die historischen bzw. machtpolitischen Details tun nichts zur Sache, sind letztlich Staffage. Denn das Gezerre, den verwirrenden Machtpoker erlebten wir nur aus der Perspektive der „Opfer“: Falliero, (gesungen von Maria Ostroukhova) und Bianca (gesungen von der grandiosen Heather Phillips). Durch diese aus der Not geborene Fokussierung auf ihren emotionalen Kern wurde aus der Oper ein mitreißendes Monodram. Es kam zu einer Art gefühlsmäßiger Kernschmelze, einer anrührenden Verdichtung der emotionalen Zerreißproben in überragenden stürmischen Koloraturen, die auf den zu Corona-Zeiten ja nur halbvollen Zuschauerraum übersprang und eine ganz erstaunlich konzentrierte, intensivierte Stimmung entstehen ließ….

Konventionell, d.h. in voller Besetzung dann zweite Versuch in Sachen „Bianca und Falliero“. Nun standen fast alle auf der Bühne und die ganze Macht der patriarchalen Unterdrückungsmaschinerie war nicht nur zu erahnen, sondern in ihrer ganzen Wucht auch zu spüren. Abgeschlossen durch eines der bittersten Happy Ends, die man sich vorstellen kann.

Erst im Vergleich merkt man, wie geschickt die fragmentarisch-konzertante Fassung von Anfang März letztlich in die Irre geführt hatte. Da waren, man erinnert sich, die Widersacher, Biancas Vater, der Doge und die anderen männlichen Potentaten, Machthaber und Rechthaber Corona-bedingt ausgefallen. Eine Art – ja fast: unfreiwilliges – Experiment unter dem Motto: Wie sähe eine Welt ohne paternalistische Strukturen aus? Das Ergebnis: Es wäre eine weitgehend friedliche Welt. 

Nun aber, wenn alle diese Instanzen, wieder gesundet, auf dem Plan stehen und massiv ins Spiel eingreifen, erkennt man, wie verhängnisvoll die Welt der männlichen Besitzansprüche sich manifestiert. Innerhalb weniger Stunden wird aus der vitalen Bianca, die beseligt, in Vorfreude auf den siegreich von der Schlacht im Dienste Venedigs zurückkehrenden geliebten Fallerio schwelgt, eine seelische Ruine. Zerbrochen im Kampf der rücksichtslos ausgetragenen Schlacht um die Macht im Staat. 

Der Vater will sie im Kampf für seine politische Rehabilitation gefügig machen – sie soll einen für seine Absichten wichtigen Partner heiraten. Und Capellio, der vom Vater strategisch vorgesehene Bräutigam, glaubt seine verbrieften Rechte rabiat einfordern zu können. Falliero, der junge Held hingegen, will Bianca ganz und gar für sich – mit dem Recht der Liebe, wie er sagt. Hin und gerissen zwischen Gehorsam und Gefühl, ihrer Liebe zum Vater und zu Fallerio und geradezu Abscheu gegen Capellio – zerbricht Bianca ganz allmählich an diesen musikalisch so überragend vermittelten Zerreißproben.

Nicht der Vater, der letztendlich zähneknirschend und unwillig nachgibt, bleibt auf der Strecke – sondern sie.

Mag auch der Text der Oper das anbieten, was man gemeinhin ein Happy End nennt – Regisseur Tilmann Köhler dekuvriert Szene für Szene, Schritt für Schritt das machtgeile Gezerre um die Entscheidungshoheit über das Lieben und Leben einer höheren Tochter als zerstörerisch: Es geht ihm erkennbar nicht um die Fratze eines Happy Endings, sondern um die psychische Destabilisierung, ja Zerstörung einer Person – um ihren Realitätsverlust. Kenntlich gemacht durch unvergesslich gesungene Zerreißproben. Dazu aberwitzige Projektionen auf die doppelten, hohen, die Figuren und ihren Spielraum umkreisenden Wände. Begleitet von gelegentlich eingeblendeten, riesigen bewegten Bildern, in denen sich in Endlosschleifen Farben überlagern, Gesichter verformen oder übermalt werden – und so diesen erbarmungslosen Prozess der Zerrüttung gespenstisch visualisieren. 

Bedrückend und anrührend auch die Schlussszene, wenn die völlig verwirrte, ja wahnsinnig gewordene Bianca wahllos ihren Vater, Falliero und auch den verschmähten zweiten Bräutigam umarmt, aneinander kettet und alle zusammen in einem Moment verrückter Weisheit in den Narrenkäfig aus jenen Wänden sperrt, dem sie nun endlich – unter Zurücklassung ihres bisherigen Lebens – entkommen ist. 

Nicht nur Nora – auch diese Bianca geht auf Nimmerwiedersehen. 

Beide Abende waren so auf ihre Art extrem erhellend – und musikalisch – sowohl gesanglich wie orchestral – zudem brillant.

Cornelie Ueding

Leos Janácek : Das schlaue Füchslein (Bayerische Staatsoper München Jan/Feb.2022)

Der passionierte Waldgänger, Vogelstimmensammler und Komponist Leoš Janàček  – beeinflusst  von der indischen Philosophie Tagores – fand mit der Geschichte über  das „kleine Füchslein“ den Stoff seines Lebens. Er versammelte schwermütige Hunde , kreischende Hühner, stotternde Froschkinder und im Zentrum: das erwähnte Füchslein Schlaukopf, die sich mit List und Tricks, Gewalt und Geschick durchs Leben kämpft.

Sie und nicht die etwas drögen, in sich erstarrten Menschen – ganz gleich ob Förster, Lehrer oder Pastor – bildet das uneingeschränkte, alle beseelende und alle zur Verzweiflung bringende mentale Zentrum dieser Oper. Unter der Klängen der traumhaft phantastischen, düster funkelnden Musik Janaceks, nuanciert und spannungsreich entfaltet von der jungen Dirigentin Mirga Grazinyté-Tyla, hat Regisseur Barrie Kosky ein gegen den Strich der Erwartung gebürstetes, beschwingtes, geradezu tänzerisches Theater ganz ohne Knuddeltier-Kostümierung und Waldkulissen gemacht.

Die schwerelos leichtfüßigen Bewegungen der wunderbaren, stimmlich leuchtenden Sängerin Elena Tsallagova als Füchsin in einem blassrosa Kleidchen wirken so ungekünstelt und überzeugend, dass man die üblichen Attribute, Fuchsschwanz und spitze Ohren, keinen Moment vermisst.

Die Frage, ob Tier oder Mensch – stellt sich gar nicht mehr. Sie und ihre kindlich jungen Mitgespielinnen sind einfach, auch ganz ohne Fell, ein schmeichelnder, liebenswürdiger und lebendiger Kontrast zu den verstockten Bauern in Schwarz, die ein Leben lang wie festgeschraubt im eigenen Saft schmoren und ihre verfehlten Lebensverläufe und gescheiterten Existenzen betrauern. Und da es keine Tierrollen gibt – entfalten Tiere und Menschen in starken Stimmungswechseln und der Natur abgelauschten Klängen eine Vielfalt psychologischer Nuancen zwischen Glück und Unglück.

Statt im romantisch verschwurbelten Walde geschieht dies alles in einem traumhaft schönen Geflecht wechselweise undurchdringlicher, düster-abweisender, dann wieder kristallklar glitzernder, durchlässiger  Zaubervorhänge, die sich von oben herabsenken – dann wieder nach oben entschweben und dem Geschehen ein nahezu märchenhaftes, unwirkliches Fluidum verleihen.

Bei aller Behändigkeit und Geschmeidigkeit  – gegen einen brutalen Schuss in den Rücken ist auch das „schlauköpfigste“ Füchslein nicht gefeit. Oder doch? Schon wenig später wächst geradezu aus dem Boden neues Leben – und ihre nicht minder fidele, gewitzte kleine Tochter tänzelt über die Bühne. So als wollte sie das Prinzip „Leben“, das der Förster eben noch mit samten- melancholischer Traurigkeit besungen hatte, körperlich wiederauferstehen lassen.

Cornelie Ueding

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens

Sibylle Canonica, Charlotte Schwab, Juliane Köhler in „Erinnerung eines Mädchens“ (Residenztheater, Regie: Silvia Costa) Foto © Sandra Then

„Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer … die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen..sie können nicht mithalten, mit dem Willen des Anderen…es gibt nur noch den anderen, den Herrn der Situation.“

So verkündet eine eherne Mikrophonstimme gleich zu Beginn aus dem Off und schlägt damit den Generalton für die kommenden eineinhalb Stunden an. Danach erleben wir drei Frauen unterschiedlichen Alters, die die Geschichte dieser Überwältigung und Unterwerfung wie Schlafwandlerinnen ihrer selbst akribisch rekonstruieren: Erinnerungsfotos, Kleidungsstücke, Sprachfetzen werden wie Reliquien einer längst vergangenen Zeit aus der Asservatenkammer des Gedächtnisses hervorgeholt, drapiert, verworfen…

Seit mehr als 50 Jahren kreist das Schreiben von Annie Ernaux, kreisen ihre Romane um dieses eine Thema – jetzt hat man ein Stück daraus gemacht, das diese Suche nach der verlorenen Unschuld auf die Bühne bringt.

Es geht um die „Erinnerung eines Mädchens“. So der Titel des Romans, der als Grundlage diente.

Genauer: Um das Bild des Mädchens, das sie einmal war, das sie einmal gewesen sein könnte. Noch genauer: um das Mädchen des Sommers 1958 und die paar Wochen, die sie als damals gerade 18 jährige in einem Sommerlager für Schüler verbrachte. Und letztlich, wenn man es auf den Punkt bringen will, um ihr Thema Nr. Eins, ihre erste sexuelle Erfahrung.

Viele Bände über 3, 4 Wochen und ihre Spätfolgen – das übertrifft  die Ich-Obsessionen eines JJ Rousseau, eines Marcel Proust bei weitem.

Der elterliche Krämerladen, die streng observierenden Blicke der Mutter, die Bulimie, ihre Depression, ihr Ehrgeiz, ihr untilgbares Gefühl der Scham und der Schande, ihr rabiater Hochmut — alles wird auf den dramatischen Moment der zwei Nächte der damals 18 jährigen mit dem 22 jährigen Sportlehrer   – beide waren Betreuer einer Kindergruppe in der Kolonie – zurückgeführt.

Nicht von einer Vergewaltigung ist die Rede, weit eher von einer von Sehnsüchten getriebenen, ungut verlaufenen Halbentjungferung unter ziemlichen Stress und mit gewaltiger Frustration. So könnte man den Vorfall umschreiben. Ein leider allzu alltägliches Vorkommnis.

Kein: Was soll’s – kommt schließlich öfter vor. So oder so ähnlich könnten Kritiker des Ansatzes von Ernaux reagieren. Aber das Gegenteil ist der Fall: Das Deflorations-Epos der alten Dame findet derzeit enormen Anklang und späte Würdigung.

Verdientermassen, denn es ist nicht so sehr der sexuelle Akt, um den es zu tun ist, sondern es sind die Jahresringe der Folgen und der Erinnerungen, die sich um ihn angelagert haben – und seine sozialen, psychischen und auch politischen Konsequenzen. Kaum eine Erfahrung beruflicher oder persönlicher Art, die nicht als Folgeerscheinung und Spätfolge dieser ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Erfahrungen auf irgendeine Weise festgemacht würde. Hysterie? Die Autorin sieht ihre manisch reflexhafte Suche nach sich selbst bisweilen durchaus selbstironisch gebrochen. Eine Ironie freilich, ein doppelter Blick, denen die Regisseurin Silvia Coster im Verlauf der eineinhalb Stunden im Münchner Marstalltheater nur wenig abgewinnen konnte – zu ernst und statutarisch lässt sie die drei streng gewandeten, alterslos erscheinenden Frauen Vorkommnisse von damals rekonstruieren. Eher wie Kriminalistinnen reproduzieren sie die Sammelaktion der Autorin, bevor sie zu schreiben anfangen konnte.  So werden frühere Aussagen, Fund- und Kleidungsstücke der fünfziger Jahre gesammelt, verblichene Fotografien herbeizitiert und befragt. Das stellt auf eine sehr stille, konzentrierte Art ein Gefühl dafür her, wie traumatisierende Erfahrungen in der Jugend unser Leben auf Dauer prägen können, ja jede unserer emotionalen Zuckungen und Reflexe bis ins Alter lenken. Wie gesagt – keine großen historischen Erlebnisse, keine Expeditionen in fremde Länder – weit eher eine Expedition ins Innere, die vor allem zeigt, welche merkwürdige Unwirklichkeit ein Geschehen Jahre später annimmt.

Freilich mit zwei nicht unproblematischen Einschränkungen:

Zum einen ist da ein kurioser Biologismus – der ein ungutes deterministisches Bild von Frauen vermittelt, die alles willfährig über sich ergehen lassen, weil es in ihrer Natur zu liegen scheint.

Zum anderen: Im Subtext entsteht die vielleicht unfreiwillige aber recht forcierte Produktion eines in dieser Form einfach nicht mehr  hinnehmbaren Männerbildes als eines Dominators, als desjenigen, der immer einen Schritt voraus ist und die Frau magisch mitreißt. Bis zum Schluß  – ein halbes Jahrhundert später. Am Ende beschreibt sich die Autorin als alte Frau, die dem Verführer von damals noch immer nachspürt und ihn ausfindig macht: Als kraftstrotzenden Stammvater einer 40 köpfigen Sippe. Er noch immer im vollen Saft. Sie hingegen allein, devot, alt.

Einziger fragwürdiger Triumph: Sie schreibt – er nicht.

Cornelie Ueding