Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens

Sibylle Canonica, Charlotte Schwab, Juliane Köhler in „Erinnerung eines Mädchens“ (Residenztheater, Regie: Silvia Costa) Foto © Sandra Then

„Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer … die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen..sie können nicht mithalten, mit dem Willen des Anderen…es gibt nur noch den anderen, den Herrn der Situation.“

So verkündet eine eherne Mikrophonstimme gleich zu Beginn aus dem Off und schlägt damit den Generalton für die kommenden eineinhalb Stunden an. Danach erleben wir drei Frauen unterschiedlichen Alters, die die Geschichte dieser Überwältigung und Unterwerfung wie Schlafwandlerinnen ihrer selbst akribisch rekonstruieren: Erinnerungsfotos, Kleidungsstücke, Sprachfetzen werden wie Reliquien einer längst vergangenen Zeit aus der Asservatenkammer des Gedächtnisses hervorgeholt, drapiert, verworfen…

Seit mehr als 50 Jahren kreist das Schreiben von Annie Ernaux, kreisen ihre Romane um dieses eine Thema – jetzt hat man ein Stück daraus gemacht, das diese Suche nach der verlorenen Unschuld auf die Bühne bringt.

Es geht um die „Erinnerung eines Mädchens“. So der Titel des Romans, der als Grundlage diente.

Genauer: Um das Bild des Mädchens, das sie einmal war, das sie einmal gewesen sein könnte. Noch genauer: um das Mädchen des Sommers 1958 und die paar Wochen, die sie als damals gerade 18 jährige in einem Sommerlager für Schüler verbrachte. Und letztlich, wenn man es auf den Punkt bringen will, um ihr Thema Nr. Eins, ihre erste sexuelle Erfahrung.

Viele Bände über 3, 4 Wochen und ihre Spätfolgen – das übertrifft  die Ich-Obsessionen eines JJ Rousseau, eines Marcel Proust bei weitem.

Der elterliche Krämerladen, die streng observierenden Blicke der Mutter, die Bulimie, ihre Depression, ihr Ehrgeiz, ihr untilgbares Gefühl der Scham und der Schande, ihr rabiater Hochmut — alles wird auf den dramatischen Moment der zwei Nächte der damals 18 jährigen mit dem 22 jährigen Sportlehrer   – beide waren Betreuer einer Kindergruppe in der Kolonie – zurückgeführt.

Nicht von einer Vergewaltigung ist die Rede, weit eher von einer von Sehnsüchten getriebenen, ungut verlaufenen Halbentjungferung unter ziemlichen Stress und mit gewaltiger Frustration. So könnte man den Vorfall umschreiben. Ein leider allzu alltägliches Vorkommnis.

Kein: Was soll’s – kommt schließlich öfter vor. So oder so ähnlich könnten Kritiker des Ansatzes von Ernaux reagieren. Aber das Gegenteil ist der Fall: Das Deflorations-Epos der alten Dame findet derzeit enormen Anklang und späte Würdigung.

Verdientermassen, denn es ist nicht so sehr der sexuelle Akt, um den es zu tun ist, sondern es sind die Jahresringe der Folgen und der Erinnerungen, die sich um ihn angelagert haben – und seine sozialen, psychischen und auch politischen Konsequenzen. Kaum eine Erfahrung beruflicher oder persönlicher Art, die nicht als Folgeerscheinung und Spätfolge dieser ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Erfahrungen auf irgendeine Weise festgemacht würde. Hysterie? Die Autorin sieht ihre manisch reflexhafte Suche nach sich selbst bisweilen durchaus selbstironisch gebrochen. Eine Ironie freilich, ein doppelter Blick, denen die Regisseurin Silvia Coster im Verlauf der eineinhalb Stunden im Münchner Marstalltheater nur wenig abgewinnen konnte – zu ernst und statutarisch lässt sie die drei streng gewandeten, alterslos erscheinenden Frauen Vorkommnisse von damals rekonstruieren. Eher wie Kriminalistinnen reproduzieren sie die Sammelaktion der Autorin, bevor sie zu schreiben anfangen konnte.  So werden frühere Aussagen, Fund- und Kleidungsstücke der fünfziger Jahre gesammelt, verblichene Fotografien herbeizitiert und befragt. Das stellt auf eine sehr stille, konzentrierte Art ein Gefühl dafür her, wie traumatisierende Erfahrungen in der Jugend unser Leben auf Dauer prägen können, ja jede unserer emotionalen Zuckungen und Reflexe bis ins Alter lenken. Wie gesagt – keine großen historischen Erlebnisse, keine Expeditionen in fremde Länder – weit eher eine Expedition ins Innere, die vor allem zeigt, welche merkwürdige Unwirklichkeit ein Geschehen Jahre später annimmt.

Freilich mit zwei nicht unproblematischen Einschränkungen:

Zum einen ist da ein kurioser Biologismus – der ein ungutes deterministisches Bild von Frauen vermittelt, die alles willfährig über sich ergehen lassen, weil es in ihrer Natur zu liegen scheint.

Zum anderen: Im Subtext entsteht die vielleicht unfreiwillige aber recht forcierte Produktion eines in dieser Form einfach nicht mehr  hinnehmbaren Männerbildes als eines Dominators, als desjenigen, der immer einen Schritt voraus ist und die Frau magisch mitreißt. Bis zum Schluß  – ein halbes Jahrhundert später. Am Ende beschreibt sich die Autorin als alte Frau, die dem Verführer von damals noch immer nachspürt und ihn ausfindig macht: Als kraftstrotzenden Stammvater einer 40 köpfigen Sippe. Er noch immer im vollen Saft. Sie hingegen allein, devot, alt.

Einziger fragwürdiger Triumph: Sie schreibt – er nicht.

Cornelie Ueding