Das Europa der Decadents

Drei Tage  mentaler Trauerbeflaggung auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Drei Tage Cassandrarufe und Durchhalteparolen.

Und dann das große Aufbäumen – zumindest rhetorisch. Ausgerechnet ein Macron, der durch seinen antisozialen Kurs  in Paris seit einem Jahr die Menschen zu Millionen  auf die Straßen treibt, pumpt die Muskeln auf und schwingt sich zum Retter Europäischer Größe auf. Mit Mitteln von vorgestern: Atomwaffen und Aufrüstung. Andere schwadronieren davon , dass Europa „Die Sprache der Macht lernen müsse“ – so als ob es einen „crash Kurs“ dafür gäbe und man mit ein wenig mehr an Aufrüstung  schlagartig besser dastünde und den autokratisch dominierten Systemen Chinas, Russlands, den USA und dem Islamischen Staat mit diesen symbolpolitischen Gesten Angst einflößen könnte. Nein die Zappelbeine mentaler „Westlessness“ wird man nicht durch ein paar Atomsprengköpfe mehr und Durchhalteparolen in Wortblasenform los. Das sitzt  alles tiefer. Sehr viel tiefer. 

Wir sind  nun mal ein  erfahrungsskeptisch gewordener  Patchworkkontinent . Zusammengeflickt, zusammengeleimt aus lauter unterschiedlichen Flicken und Flecken . Seit mehr als 2000 Jahren ziehen wir Grenzen  u n d  bauen Brücken.  Wir sind christlich-abendländisch u n d   agnostisch-aufklärerisch zugleich. Wir haben tödliche u n d  tröstliche Ideologien entwickelt –  wir sind die verkörperte Widersprüchlichkeit.  Nirgendwo sonst auf der Welt drängen sich so viele unterschiedliche Kulturen und Wertesysteme aneinander wie auf diesem winzigen Appendix des gewaltigen asiatischen Kontinents. Begegnen sich so viele Sprachen, ist seit Jahrtausenden soviel Völkerwanderung im Gange wie hier. 

So bitter es für manche klingen mag: nein, wir haben keine „Leitkultur“ – wir sind ein Meltingpot der Verschiedenartigkeiten. Wir haben keine festen Aussengrenzen, sondern sind ein Korridor, der so groß ist  wie das Becken des Mittelmeers. Wir sind ein Schwellenkontinent  – sicher nicht im ökonomischen Sinn, wohl aber im topographischen. 

Und genau dazu sollten wir uns jetzt,  in dieser extrem angespannten Situation bekennen. Es macht keinen Sinn,  sich wieder die Siebenmeilen- oder Kampfstiefel der Globalisateure   anziehen zu wollen und unter den Tritten dieser Stiefel die eigene, in Jahrtausenden gewachsene Identität zu zertrampeln. Wir täten gut daran, das zu erkennen und uns zu dem zu bekennen, was aus uns geworden ist, statt in kraftmeierischen Gebärden unsere Energie zu vergeuden und uns  in einen Wettstreit um  die Macht einzulassen, der schon verloren ist, bevor er begonnen hat. Wenn schon Wettstreit, dann Wettstreit ums LEBEN, ums Überleben. Wie suchen einen, der „mit uns um die Wette leben will“ – sagt Lessings Nathan am Ende, als er vor dem Scherbenhaufen seiner Familienidentitäten steht. Die Tochter: eine Jüdin, die eigentlich eine Christin ist. Ein Christlicher Ritter mit arabischen Wurzeln… Das ist Europa und das könnte der Neuanfang Europas sein: Weg mit den Normen und Kartellen, mit immer neuen europäischen Vereinheitlichungsrichtlinien und bürokratischen Monstrositäten. Hard power – soft power?

Europa sollte sich vehement dem verschreiben, was Robert Nye unter dem Begriff der „soft power“ entwirft und was derzeit in Gefahr ist als „unprofessionell“ abgetan zu werden.  Eine Form der Machtausübung über die Fähigkeit, andere für sich einzunehmen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung zu bewegen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anzuwenden. Soft Power gründet sich auf die Überzeugungs- und Anziehungskraft der Akteure, die ihnen aus Sicht anderer Glaubwürdigkeit verleiht.Dazu gehören zum einen aktive Mittel wie ein am Dialog orientierter Einsatz der Diplomatie, das Werben für die eigenen Werte und politischen Strukturen (Public Diplomacy) sowie eine in verschiedenen Politikbereichen mögliche, langfristige Investition in die Stabilität zwischenstaatlicher oder internationaler Beziehungen (z.B. durch Entwicklungshilfe, Menschenrechts-, Kultur-, und Wissenschaftspolitik). 

Gebt Europa diese Chance, sich zu einer gut ausgebauten Drehscheibe der Kulturen werden zu lassen, zu einer Rettungsinsel, die den Bewegungen von Menschen einen Arbeit- und Lebensplatz auf Zeit gibt und die Kühnheit besitzt, dabei auch ganz neue Wege zu gehen. Werden wir heute gedanklich so flexibel, beweglich und kreativ wie Lessing es bereits vor 250 Jahren war. Das „ tearing  down the walls“ muss jetzt beginnen und es muss hier in Europa beginnen.