Auf dem Ballermann der „Freiheit“

Das Volk, „der große Lümmel“, schlägt derzeit heftig  über die Stränge. In den zeitweilig coronal Stillgestellten scheint sich mächtig was angestaut zu haben. Die einen stürmen die Mallorca und die Ostseestrände und lagern sich hautnah aneinander. Die anderen proben den Aufstand für das was sie Ihre  „Freiheit“  nennen und sind in Berlin zu ganz großer, schriller  Form aufgelaufen. 20.000 wippend, Schalmeienblasend und flotte Reden schwingend zogen durch die Hauptstadt und konnten sich endlich allgemeiner Aufmerksamkeit sicher sein. Was macht es der  fröhlich freiheitsdürstenden Herde da schon aus, dass sich ein paar hundert  hardcore Nazis dazu gesellen ,  um die Party aufzumischen und zu Ihrer Sache machen. 

Aber versuchen wir die Ressentiments beiseite zu lassen und zu sehen was wirklich hinter dieser neuen „Wir sind das Volk Bewegung“ steht, stehen könnte.  Wissen sie was sie tun? Wissen sie dass ihr „Tag der Freiheit“ das Motto eines der vielen hitlerverklärenden Propagandafilme der Naziikone Leni Riefenstahl war? Wissen sie , was sie konkret meinen, wenn sie gebetsmühlenartig den ausgeleierten Slogan der „Lügenpresse“ bis zum Überdruss reproduzieren? Wenn sie  wie eine leicht verlotterte Karikatur all dessen  auftreten, was man immer schon befürchtete, wenn  man  vom Volk als  dem „großen Lümmel“   sprach?   Es war kein Dekadent oder Snob, der diese Formulierung wählte, sondern Heinrich Heine. Und er war kein Einzelfall. Auch der junge, republikanisch gesonnene  Georg Büchner malt in seinem Danton das Bild einer jämmerlich leicht manipulierbaren Herde, die vorgegebene Parolen gedankenlos  und opportunistisch nachplappert. Und der von der französischen Revolution inspirierte Friedrich Schiller warnt auf drastische Weise von „ewigblinden“   Menschenmassen. 

Auch wenn man das alles einfach mit dem verächtlichen Hinweis auf abgehobene „Klassiker“ wegwischen könnte – es  macht Sinn,  sich über das Phänomen der anscheinend  wie aus dem Nichts entstandenen wahnhaften Schwarmverdummung Gedanken zu machen. Dieser mentale  Virus scheint in der Tat  rasch um sich zu greifen und vorzugsweise Gesunde oder sich gesund Wähnende  aus dem gesamten  weltanschaulichen Spektrum der Population zu erfassen: da stehen junge Nazis neben irrlichternden alten Pazifisten, esoterisch Versponnene neben halbakademischen Verschwörungsspezialisten, geläuterte Investmentbaker neben Asozialen, Besserwisser neben Dummköpfen, Querulanten neben Mitläufern. Wenn man einen Querschnitt aus Ballermannpopulationen,  Merkelgegnern und Klimademonstranten, Helene Fischer Mitwippern und  dem noch zu gründenden Verein der Unbeachteten zöge – die bundesweiten  Coronaleugnerdemos würden ihn ziemlich genau abbilden. 

Leute wie Du und ich, Leute, die nicht gerade im Licht stehen und jetzt ihre Stunde gekommen sehen. Durch ihr bloßes Da-Sein und Dabei-Sein beweisen, dass sie, dass gerade sie eine eigene Meinung haben.  Selbst die auf absurde Situationen professionell gepolte Journalistin  Dunja Hayali, die sich dem Stress unterzog, das zu tun , was Tucholsky vor langen Jahrzehnten  schon einmal vorgeschlagen hatte, einfach mal mitzuschreiben/mitzuschneiden, „was die Leute so sagen“, war kurzfristig mit ihrem journalistischen Latein am Ende. Sie stellte verzweifelt resigniert fest,

 daß hier etwas ganz und gar surreal Erscheinendes vorging. Stellte man den Leute Fragen- kam das nicht gut an. Fragte man sie nicht – war das gleichfalls suspekt. War man ihrer Meinung, pfiffen sie darauf;  widersprach man ihnen, konnte man gleich einpacken. Ethnopoetik mit Einheimischen –  der Autor und Ethnopoet Hubert Fichte, seinerzeit spezialisiert auf schräge Vögel und randständige Existenzen, wäre in seinem Element gewesen. Oder doch nicht? Vermutlich wäre auch er auf Halbdistanz gegangen. Denn hier hat man es  in der Mehrzahl nicht mit Aussenseitern im üblichen Sinn zu tun, sondern mit einer besonderen Spezies der elitären „ underdogs“.   Einmal schlauer sein als die da oben. Einmal gerissener sein als dieser  elitäre Klüngel und denen die Maske vom Gesicht ziehen, statt sich von ihnen eine Maske  , einen Maulkorb aufsetzen zu lassen.  Mit einem Schlag die Chance, der vielleicht über Jahre aufgespeicherten Unzufriedenheit Luft zu machen. Provinzler, die aus dem Schatten treten wollen. Großstädter, die sich von der in ihren Augen dummen  Masse um sich her absetzen wollen. Und nun durch den Virus Luft unter die Flügel bekommen und mit freudigem Erstaunen feststellen, dass sie  mit ihren Frustrationen nicht alleine stehen. Eremiten, die schlagartig zur Masse werden – das muß ein frappierendes , fantastisches Gefühl freisetzten – zumindest für ein paar Stunden, für ein paar Tage.

Nein, das sind nicht nur die klischeehaft „sozial Abgehängten“, nicht die Hartz Vierler, nicht die Ossis, nicht die um gefährdete Arbeitsplätze Bangenden.  Nicht  die üblichen Verdächtigen  stehen jetzt auf den Plätzen, sondern mental Abgehängte,  Individuen, die sich als Nummern betrachtet fühlen, als Verwaltungsmaterial, als notorisch Gekränkte , Mißachtete.

 …. Ernst  Bloch sprach einmal hellsichtig  vom „Hochmut der Davongekommenen“. Die sich jetzt triumphierend  auf den Straßen Präsentierenden sind in gewissem Maße tatsächlich Davongekommene – jedenfalls was die Pandemie betrifft. Mit dieser trügerischen Macht des Faktischen im Rücken gehen, schreiten, fliegen sie förmlich  in die Öffentlichkeit , sozusagen als  lebende Beweise für die  Inexistenz des angeblich unheilbringenden Virus .   Die Beweiskette scheint geschlossen: Regierende Lügner – ein fakenews Virus als Herrschaftsmittel  und Millionen von Willigen, ihrer Rechte , ihrer Freiheit beraubte  Lemminge. Was wäre   aus dieser Sicht zwingender als Widerstand, als ein Aufstand gegen ein programmatisch  entmündigendes  System.  Zumal  kein unmenschliches , kein totalitäres Regime  diese Situation zu verantworten hat , sondern der Angriff auf die Freiheits- und Bürgerrechte unter der Maske der Demokratie, der Bürokratie, der Vernunft  erfolgt. 

Psychiatern ist diese Denkfigur mehr als vertraut. Viele Ihrer Patienten sehen sich von ominösen Mächten verfolgt  und verstehen es blendend, jede Reaktion ihrer Umgebung als weiteren Beweis für ihren Verdacht zu interpretieren. Die derzeitige Freilichtpsychiatrie allerdings hätte eine kollektive Erkrankung zu therapieren. Sie wäre gut beraten,  die zum Teil exzentrischen Verirrungen auch als  politischen Hinweis,   als Alarmzeichen auf mögliche Defizite des praktizierten Herrschaftsstils zu sehen. 

Heinrich von Kleist ahnte in seiner Kritik am preussischen System bereits 1805:

Doch alles schüttelt, was ihm unerträglich,

Der Mensch von seinen Schultern ab;

Den Druck nur mäß’ger Leiden duldet er.

Heinrich von Kleist

Und selbst mäßigen Druck duldet er  unter bestimmten Voraussetzungen   nicht immer und auch nicht ganz zu unrecht. Erstaunlich, dass die großen Freiheitsschwärmer wie Expräsident  Gauck in diesem existentiell wichtigen Moment sich in indigniertes Schweigen hüllen , satt zu erklären, wie man Freiheit lebt und limitiert. Und wie man es anstellt, dass Menschen  mit ihren Emotionen  sich wirklich ernst genommen , nicht vorgeführt und benutzt sehen.