Händel: HERCULES Oper Frankfurt Premiere 30.4.2023

Anthony Robin Schneider (Hercules). Copyright: Oper Frankfurt

Musikalische Leitung: Laurence Cummings, Regie: Barrie Kosky

Der Raum könnte unpersönlicher, weltabgewandter und farbloser nicht sein: weder Türen noch Fenster. Einsam und völlig von einer Art Trauerflor umhüllt sitzt Dejanera, Hercules Frau, in diesem öden Raum,  tieftraurig und voller Sehnsucht nach ihrem verschollenen Gatten – der paradoxerweise neben ihr sitzt, in Denkerpose – freilich: reglos und in versteinerter Form. Ein Denk-Mal in Lebensgröße. Ein Dummy seiner selbst.

Bei Heroen liegt das nahe, denn wirklich realiter existieren diese ja oft nur als marmorne Stand- oder eben Sitzbilder. Um ihn her Trauer, Verzweiflung, dann schließlich frohe Kunde seiner Rückkehr – und beständig sitzt der steinerne Gast starr, muskelbepackt und ein wenig hochmütig auf dem Sofa, als ginge ihn das alles nichts an. Auch als schließlich, kaum mehr erwartet, der echte Herkules mit schwerem Soldatengang hereinstampft, kümmert dies den Avatar in keiner Weise: Idol und Mensch haben wenig miteinander gemein. 

Umso mehr schwebt Dejanera auf Wolke sieben als ihr Superheld sie endlich in die Arme schließt. Ein Happy End wie aus dem Bilderbuch – wäre da nicht in seinem Schlepptau die junge, aparte Iole, geraubt und mitgebracht als Beute von seinem letzten Triumphzug. Dejanira wittert – ob berechtiget oder nicht: Verrat! Sie verzweifelt, gerät in Wallungen, ja wird wahnsinnig vor Eifersucht. Letzter Ausweg: das sprichwörtliche Nessushemd – ein giftiges Danaergeschenk, von dem sie gutgläubig annimmt, es würde den vermeintlich Treulosen wieder zu ihr zurückbringen. Ein fataler Schachzug: das vergiftete Hemd verbrennt Hercules bei lebendigem Leibe.

Was sich so – rein vom Inhaltlichen her  – etwa grobschlächtig anhört, wird in diesem fast vergessenen, dramatischen Oratorium unter der Regie von Barrie Kosky  zu einer suggestiven psychologischen Oper. Wobei der Titelheld als unbewegtes Standbild eine merkwürdige Nebenrolle im Abseits spielt. Um ihn her tosen Leben, Liebe, Eifersucht und Verwirrung – ihn selbst scheint das alles kaum zu tangieren, geschweige denn wirklich zu berühren. Wozu auch – er ist ja ohnehin Mittelpunkt der Verehrung und des Begehrens, ganz gleich, ob er sitzt oder wie im zweiten Teil in heroischer Marmorpose herumsteht. Oder sich – ganz am Ende – schon entrückt im Götterhimmel, förmlich in Rauch auflöst!  Umso mehr Spielraum bleibt den anderen Figuren – vor allem der Dejanira, die sich aus der anfänglichen Starrheit  lösend,  mehr und mehr in Rage singt und spielt.

Wer hier mehrere Stunden lang stimmlich und körperlich miterlebt, wie diese Frau nahezu lustvoll im Rausch der Eifersucht zu emotionaler Höchstform aufläuft und verglüht, kann begreifen weshalb so viele Dramen und Opern des Barock immer wieder um diese eine Thema  kreisen: Wie kann man Leidenschaften und  Passionen bändigen. Extreme Gefühle, die das Individuum von sich selbst wegreißen und die Umwelt in Trümmer legen. Wobei im Fall von Dejaniras Eifersuchtswahn offen bleibt, ob er begründet oder unbegründet ist.

Der Psychopathologie der Emotionen ist der Wirklichkeitsbezug egal. Und die wunderbare Mezzosopranistin Paula Murrihy zeigt als Dejanira, wie diese sich um der Affekte willen in ein Gefühls-Delirium hineinsteigert. Es ist dieser Drehschwindel, der bis in die von dem erfahrenen  Barockspezialisten Laurence Cummings  federnd dirigierten, vibrierenden Streicher reicht, der die zum Zerreißen gespannte Stimmung auf der Bühne überträgt. Ganz abgesehen von der auf Distanz angelegten Körpersprache der brillanten Stimmen: Dabei sind die innerlich angespanntesten Momente jene, in denen sich die jeweiligen Protagonisten in einem bühnenbreiten Abstand voneinander gegenüberstehen.

Besonders wenn Dejanira ihre eifersuchtsgrundierten ersten Salven abfeuert: ihren Helden frozzelnd umtänzelt,  ihn ironisch provoziert. Dann, ganz allmählich, entfesselt sich ihre Stimmung zu wütender Verzweiflung und hält zielgerichtet auf das tragisch Ende zu. Ob sie wirklich glaubt, durch das giftige Nessos-Hemd, das sie ihrem Gatten als Versöhnungsgeschenk zukommen lässt, seine Liebe wieder zu gewinnen, bleibt in der meisterlichen Regie von Barrie Kosky ebenso in der Schwebe wie der Verdacht, dass sie ihm das todbringende Gewand womöglich doch arglistig zukommen lässt. Egal: die grandiose Trauer-Ekstase steht dem vorangegangen Eifersuchtswahn in nichts nach.

Am Ende liegt die unfreiwillige Rächerin wie tot, entfesselt hingestreckt am Boden. Sie ist und bleibt in ihrer Not  ganz allein – doch auch der als „Gruppe“, bisweilen Meute  auftretende  Chor zeigt in jeder seiner grandiosen Szenen vor allem eines: die Distanz der Figuren zueinander – egal, in welcher Stimmung sich diese große Zahl von Einzelgängern zusammentut: Ob sie in der undurchschaubaren Finsternis  mit  düster-schönen Lichteffekten spielen oder sich als  Kommentatoren oder „Entertainer“ anzudienen scheinen …

Es wäre freilich kein Händel-Werk, wenn nach dem tragischen Showdown nicht eine erlösende didaktische Lehr-Einheit alles wieder zurecht rücken würde: Diesmal durch den sedierenden Bariton eines Jupiter Priesters, der die Ehre hat, dreierlei feierlich  zu verkünden: Zum einen ist der grausam verbrannte Held mittlerweile von Jupiter in himmlische Gefilde aufgenommen worden. Kein blutiger Kadaver, sondern eine im Rauch entzündeter Ofenfeuer verschwimmende Marmorstatue repräsentiert ihn. Zum anderen findet die von Anfang an sehr wacklige Liebe zwischen dem etwas jämmerlichen Sohn des Helden und dem Beutemädchen eine Art  – vorläufiges – Happy End. Und schließlich erwacht die zur Witwe gewordene Dejanira von den Toten und sinkt schmerzvoll in tröstende Umarmungen.  

Aber dieses Happy Ending ist nun bewusst so hölzern und pflichtschuldig angeklebt, dass keiner diesen konventionell beruhigenden Schluss wirklich ernst nehmen soll.  Was bleibt, ist eine zugleich schwerelos leichte und ergreifend wuchtige Gesamtstimmung, die diesen Opernabend zu etwas ganz Besonderen macht.