Der schwärmerische Sohn liebt seine junge Mutter, und sein nicht nur in diesen Dingen vollständig humorloser Vater sinnt nach Rache. Am Ende sind dann die jungen Romantiker tot und die kalten Alten am Leben. Hinter vielen Dramen steckt eine einfache Geschichte – so auch hier. Je nach Stimmung und Stand, banal oder tragisch, große Oper oder schräge Klamotte.
Bei Schiller und Verdi wird daraus große Oper:
Der „mächtigste Mann“ der damaligen Welt, der spanische König Philipp II., ehelicht die blutjunge, eigentlich seinem Sohn Don Carlos versprochene Elisabeth. So etwas kann nicht gutgehen: Liebe lässt sich auch von Herrschern nicht dirigieren. Und noch weniger an- und abschalten. Und so ist der Weg in die Katastrophe vorgezeichnet, und Carlos wird genau dort landen, wovor sein Vater ihn immer gewarnt hatte: Vor der gefürchteten Inquisition in Gestalt des Großinquisitors, dem eigentlichen Herrscher in diesem Drama.
Carlos ist chancenlos und versinkt in Melancholie. Dazu hat er allen Grund: die Liebe seines Lebens ist für ihn unerreichbar und sein höchst dubioser, ebenso idealistischer wie undurchschaubarer Freund Marquis Posa, der bei Verdi Rodrigo heißt, unterstützt ihn bei seinem Weg ins Verderben. Denn der fungiert gleichzeitig als Vertrauter, Mittelsmann, Verräter und Intrigant: Ganz und gar selbstverliebt gefällt er sich in der Rolle als Günstling des Königs, so dass ihm etwas wie Treue, wir würden es heute vielleicht, weniger hochtrabend, Loyalität nennen, gar nicht mehr in den Sinn kommt.
Der Escorial, in dem die Handlung spielt, hat es in sich. Er ist nicht nur die Machtzentrale des spanischen Königreichs, sondern auch der Sitz der katholischen Inquisition, die an den Drähten der Macht zieht. Und an deren Drähten zappelt sogar der König.
So flaniert denn auch der Großinquisitor in Lotte de Beers Inszenierung päpstlich weiß gewandet als unanfechtbarer Herrscher in diesem System des Schreckens durch sein Revier: zur Verbrennung der Ketzer kaut er genüsslich an einem Apfel, manche Opfer seiner Herrschaft entlässt er zynisch mit einem väterlich-gönnerhaften Streicheln in den Tod. Und angesichts seines überheblichen und machtbewussten Auftretens schrumpft der König geradezu in seiner Gegenwart.
Doch schon von Beginn an, lange vor dem Auftritt des Großinquisitors, teilt sich dem Zuschauer der Eindruck mit, dass alle Figuren in einer Welt der Lauscher und Spitzel, der Fallen, der doppelten Böden und versteckten Tapetentüren leben – nicht aufdringlich, aber insistierend: Kreisende, sich gespenstisch langsam drehende, bühnenhohe düstere Wände schneiden Szenen in Stücke, schneiden Menschen das Wort ab, gleiten zwischen Figuren – gleich einer ominösen Kraft, die dem Leben ihre Gesetze diktiert. Todesmühlen. Mühlen, die gleichmütig alles zermahlen: vor allem Andersdenkende, Ungehorsame, aber auch Freundschaften, Verwandtschaften, Liebesbande.
Immer wieder hat Lotte de Beer in ihrer grandiosen Stuttgarter Inszenierung von Verdis Don Carlos „Zwischenszenen“ ohne Gesang integriert. Hier werden Kindergartenkinder ganz reizend, im Wortsinn spielerisch, von einem eigens dazu abgestellten Kinder-Spielleiter dazu angeleitet, wohlerzogen zu funktionieren, sich auf einen Wink hin zu ducken, kollektiv aktiv zu werden und dann auch schon mal auf Befehl die Puppe abzufackeln, mit der sie eben noch so herzig gespielt hatten. Widerstand ist nicht vorgesehen in diesem Drill, dieser Vorbereitung auf ein Leben unter der Knute der Zensur – oder aufs Autodafé.
Orchester und Sänger entfalten unter Leitung des Stuttgarter Generalmusikdirektors Cornelius Meister das ganze Spektrum von Verdis Orchesterfarben von der ersten, bei den Proben zur Uraufführung 1867 gestrichenen Szene, über Gerhard E. Winklers statt der Ballettmusik eingefügte Pussy-(r)-Polka mit Trillerpfeifen und Eisenketten, bis zu der von Verdi selbst revidierten Fassung aus dem Jahre 1886. Willentlich überschreiten sie die Grenzen zur Kakophonie, zu freien Rhythmen und blechernen Instrumenten, die dem Verhängnissog den Takt schlagen und so dem historischen Stoff – ohne ihn auf irgendeine Weise plakativ zu aktualisieren – beklemmende politische Nähe verleihen. Im totalitären Überwachungssystem haben individuelle Gefühle schlicht keinen Platz. Damals mag es ein Inquisitor gewesen sein, der persönliche Bedürfnisse zur Seite wischte. Heute ist es ein Programm, ein System, eine Technologie oder vielleicht in ein paar Jahren eine KI.
Immer betrifft es – und das zeigt die Aufführung so herausragend – Menschen. Einzelne und Gruppen, Arme und Reiche, Frauen und Männer, unterschiedslos. All denen leiht der Text des Librettos eine Stimme, und Verdis Musik gibt ihren Gefühlen Ausdruck. Bühnenbildner Christof Hetzer, Dirigent und Regisseurin zeigen, welche Gefahren eine geschlossene Wand birgt, ein Raum, in dem man nur allein und unbeobachtet zu sein glaubt; wie ganz persönliche, intime Dinge in die Öffentlichkeit gezerrt werden; wie einsehbar, geradezu ausgestellt selbst Büro und Schlafraum des Königs sind – und sie zeigen dressiert wirkende Menschenmengen, die der Hinrichtung von Abweichlern zusehen … wollen, müssen?
Nuancenreich und genau: Herrschende und Beherrschte, Leidende, Sehnsüchtige, Verratene, Tückische … Selbstgerechte – und Liebende. Die Normalität des Wahnsinns. Nur der Protagonist, Don Carlos, weicht davon ab: er zeigt gelegentlich durch unkontrollierbares Zucken und kleine „Ticks“ an, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Den massiven Irrwitz dieses Hofes als einer Brutstättdes Wahnsinns bekommt man nicht zu Gesicht – aber man spürt, dass sie alle durch Unterdrückung verrückt sind … Bis zum letzten Atemzug.