Kleist: „Der zerbrochne Krug“ – Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Der Prozess

Es ist nicht ganz einfach, einem in die Jahre gekommenen und immer wieder gespielten Stück wie dem „zerbrochnen Krug“ neue Nuancen zu entlocken.

Noch schwerer ist es, einen Text in syntaktisch extrem anspruchsvoller Sprache und ein Stück, in dem nichts passiert, sondern alles bereits geschehen ist, so auf die Bühne zu bringen, dass dennoch Spannung entsteht.

Regisseur Uwe Eric Laufenberg ist in Wiesbaden beides überzeugend gelungen. Weder gibt es Aktualisierungsbemühungen, noch hat er versucht, unbekannte psychologische Tiefendimensionen zu erschließen oder die Ereignisse gar drastisch zu vergröbern. Er hat entschlossen „nur“ auf den Text und nicht auf die eigenen Phantasien gesetzt. Konkret heißt das: Laufenberg lässt Wort für Wort den vollständigen und ursprünglichen Text des Dramas spielen, inklusive der später aus Schicklichkeitsgründen getilgten entlarvenden Schlussszene. Er hat ganz und gar auf reflektierte Werktreue gesetzt und jede Nuance gekonnt ausgelotet. 

Das für heutige Verhältnisse ungewöhnlich kühne Experiment ist bis ins kleineste Detail gelungen und beschert den Zuschauern Einblick in einen ausgesprochen lehrreichen Prozess. Natürlich gehen im Verhör die Meinungen über das, was denn in der Nacht, als der Krug zerbrach, vor sich gegangen sein könnte, weit auseinander, und die Verhandlung besticht mit unglaublich vielen Behauptungen, Lügen und Wutausbrüchen, mit opportunistischen Wendungen, geschickten Winkelzügen – und Absurditäten.

Denkt man an Vergleichsfälle, etwa an Kleists Michael Kohlhaas oder an Kafkas Prozess, so wird deutlich, dass und wie sich auch hier ein eher banales Ereignis im Verlauf des Prozesses zu einer existenziellen, lebensbedrohlichen Situation aufschaukelt. In der Komödie um den zerbrochnen Krug geschieht eben all das auch – mit dem einen Unterschied  —  dass die Sache nicht tödlich endet. Freilich: auch hier nur bedingt glücklich. 

Der Richter

Versoffen, halt- und rücksichtslos, plump und dreist – so kennt man den Dorfrichter Adam – eine Art norddeutscher Falstaff. Und all das bekommen wir auch hier geboten. Und ein ganzes Stück mehr. Zerschunden von den Abenteuern der vergangenen Nacht hinkt ein Individuum in desatrösem Zustand auf die Bühne – blutig vom kahlen Kopf bis zum Fuß, doch selbst in diesem jämmerlichen Zustand herrisch und dominant.

„Der zerbrochne Krug“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden
Im Bild: Michael Birnbaum / Foto: ©Karl & Monika Forster

Die scheinbare Behaglichkeit hat erkennbar einen doppelten Boden – und der Dorfrichter hat durchaus das Zeug zum Vergewaltiger  u n d  die Raffinesse, Tücke, Reaktionsschnelligkeit und Geschicklichkeit, sich der Strafe zu entziehen.  

Seine Gegner: ein etwas vierschrötiger junger Bauernsohn, rechtschaffen und rechtschaffen dämlich. Eine Mutter, rebellisch und kampflustig wie ein Wiesel, die sich in ihre Version geradezu „verbeißt“. Ihre verschüchterte Tochter Eve, die sich als Klägerin wie eine Angeklagte auf dem Stuhl des Gerichts windet –

„Der zerbrochne Krug“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden
Im Bild: Lena Hilsdorf / Foto: ©Karl & Monika Forster

Und ein „Controller“ in Gestalt des Gerichtsrats Walter, der die Gerichtsbarkeit hier in Huisum zu evaluieren hat. Streng, den Kollegen disziplinierend, vom Scheitel bis zur Sohle im Habitus der Rechtschaffenheit – zumindest zu Beginn.

Was mit dem Streit um einen im Handgemenge zu Bruch gegangenen, wertvollen, weil mit Erinnerungen beladenen Krug beginnt, wird sich Zug um Zug als Drama mit weit weniger harmlosem Hintergrund erweisen. Es geht um nichts weniger als die hinterlistige Täuschung und Vergewaltigung der jungen Eve durch genau den, der über sie zu Gericht sitzt. Nachweisen lässt sich dieser Sachverhalt allerdings erst ganz am Ende, nach qualvollen Ablenkungsmanövern, Verdächtigungen Unschuldiger und irrwitzigen Abwegen – selbst der klumpfüßige Satan steht eine Zeitlang als Hauptverdächtiger zur Diskussion.

In der meist ausgelassenen (um nicht zu sagen: unterschlagenen) Schlussszene wird das Geschehen der unseligen Nacht auf Basis der Aussagen Eves minutiös rekonstruiert, einschließlich der mit sachlicher Selbstverständlichkeit nachvollzogenen Vergewaltigung. Damit wird die Szene ihrerseits zum Tribunal über das vorausgegangene korrupte Tribunal. Endlich – möchte man erleichtert sagen…wenn nicht… 

Das Urteil

…wenn es nicht bereits zu spät wäre für ein Happy End. Der Täter – reaktionsschnell und skrupellos wie immer – entwischt ungestraft.

Das unglückliche Paar, man ahnt es, wird nach all den Verleumdungen, Kränkungen und Beleidigungen nie wieder zueinanderfinden. Und selbst der bislang nüchtern und sachlich argumentierende Gerichtsrat, der dem krummen Verfahren seines Kollegen eher fassungslos zusah und sich – intern, seine Über-Macht über den Kollegen ausspielend – zu korrigierenden Eingriffen genötigt sah, erweist sich nun als ziemlich fragwürdig und auch seinerseits durchaus nicht frei von einem klebrigen Interesse an der jungen Frau. Die Mutter merkt auch das wieder nicht, keift und rechtet aber munter weiter – erkennbar ist das Virus des wechselseitigen Misstrauens nach dieser Gerechtigkeitsfarce in die Gesellschaft eingedrungen. Wie auch? In einer Welt, in der jeder seine eigenen Wahrnehmungen oder zusammengeschusterten Behauptungen  – auch wenn sie auf noch so schwankendem Grund stehen – absolut setzt und nur eines im Sinn hat: persönliche Verantwortung abzustreiten, kann es kein Vertrauen geben.

Das Tribunal wird zur Szene

So stand Laufenberg vor der Aufgabe, diesem Gespinst von Möglichkeiten und Fiktionen einen konkreten Ort zuzuweisen. Er und sein Bühnenbildner Rolf Glittenberg entschieden sich für einen tiefen Raum mit mittigem Richtertisch. Kahle, weiß übertünchte Wände, nach hinten zu immer unansehnlicher, verwinkelter. Stühle für Kläger und Angeklagte werden sorgfältig auf- und am Ende wieder abgebaut. Eine improvisierte Gerechtigkeitsbude, die säuberliche Biederkeit verströmt und die perfekte Tarnung für innere Verwahrlosung ist. 

Keiner weiß so recht, wie er sich in dieser Situation zu verhalten hat – Unsicherheit, Ängstlichkeit, gespielte Präpotenz, Misstrauen und echte Verzweiflung, geifernde Anklage und zittrige Verteidigungsversuche wechseln einander in rasantem Tempo ab – keinem der betroffenen Akteure ist ein Moment der Ruhe gegönnt – außer dem eigentlichen Opfer dieser Zuschreibungs- und Verdächtigungslawinen, die auf sie niederprasseln. 

„Der zerbrochne Krug“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden
Im Bild: Lena Hilsdorf, Michael Birnbaum, Mira Benser, Christopher Kohlbacher, Benjamin Krämer-Jenster, Evelyn M. Faber, Uwe Kraus
/ Foto: ©Karl & Monika Forster

Umso überraschender, wenn Eve – ein echter Kleist Moment – am Ende ruhig, gefasst und hochkonzentriert die nackte Wahrheit ausspricht, nachspielt, über sich ergehen lässt. Und alles die schlimmst mögliche Wendung nimmt: Da ist keiner, der diese, die Institution der Justiz beschämende Wahrheit zu hören wünscht. Die Mutter hat nach wie vor den häuslichen Schadensfall im Sinn und strebt nach der nächsthöheren Instanz. Der „Verlobte“, der denkt, mit dem Nachweis seiner Unschuld wäre die Unschuld wiederhergestellt – doch Evchens Hand zuckt zurück. Der Gerichtsrat, der das große Ganze im Auge hat – und sogar bereit ist, Schweigegeld zu zahlen.

Schmuddelig hat dieser Prozess begonnen. Laufenberg und seine großartigen Schauspieler zeigen gekonnt, dass er auch schmuddelig endet.