Titelbild: Münchner Kammerspiele "Unheimliches Tal / Uncanny Valley"- Foto: ©Gabriela Neeb
Ich denke, es ging fast allen Zuschauern in den Münchner Kammerspielen so wie mir. Nach dem Ende der Vorstellung umkreiste man zweifelnd oder ungläubig den einzigen Akteur, einen Herren um die 50, der reglos und in sich zusammengesunken in seinem Lehnsessel saß und vor sich hin starrte. Absperrbänder verhinderten, dass allzu Neugierige im Bemühen um Klärung möglicherweise Hand anlegen würden. Erst wenn man das eigentümliche Mischwesen aus Menschenvorder- und Maschinenrückseite von hinten inspizierte und das Gewirr von Verdrahtungen und Relais sah, wurde klar, dass man an diesem eigentümlichen Theaterabend weder Thomas Melle noch einem Schauspieler, der Thomas Melle spielte , sondern einem humanoiden Roboter, zugesehen und zugehört hatte.
Dabei beginnt „Unheimliches Tal“ ganz regulär mit der Ankündigung eines Vortrags von und über Thomas Melle und den genialen Informatiker Alan Turing – und dieses Programm wird in der folgenden Stunde auch regulär abgespielt, abgespult. Vielleicht besteht das Unheimliche, Irritierende dieses Abends gerade darin, das alles zunächst mehr oder weniger wie immer abzulaufen scheint und sich dennoch das unbestimmte Gefühl einstellt, dass hier irgend etwas nicht stimmt. Was genau?
Was unterscheidet diesen Vortrag von jedem anderen Vortrag? Der Inhalt allein kann es nicht sein. Dass der bekanntermaßen manisch depressive Melle sich selbst als Interview- und Schreibapparat empfand. Dass er uns alle als Wiederholungssüchtige, durchprogrammierte und vollständig determinierte Alltags-, Theater – , Publikumsautomanten sieht, ist als Gedanke nicht uninteressant, wenngleich nicht unheimlich. Dass der Wahrnehmungsbegriff sich wie eine Maske über die Illusion der Wirklichkeit legt, Thema der Literatur seit der Zeit um 1900 – gleichfalls spannend aber doch keinesfalls erschreckend.
Nein, nicht was der Mann auf dem mentalen Schleudersitz uns vermittelt ist beunruhigend und gespenstisch, sondern dass er es tut. Dass er es so gut und geläufig, so souverän und überzeugend tut, dass wir ihm wie – fast – jedem anderen Redner interessiert folgen, obwohl…. obwohl er aus Plastik, Silicon, Schaltkreisen und Modulen besteht. Dass wir seine Gesten , das Zucken seiner Mundwinkel, seiner Augen allenfalls ein wenig maniriert, nicht jedoch als unrealistisch empfinden.
Dabei passiert im selben Moment etwas Bestürzendes, in der Tat zu tiefst Erschreckendes: Die Ablösung, Auflösung, Verdoppelung, Vervielfachung des Individuums, der europäischen Leitfigur – vor unseren Augen, auf offener Bühne. Jener Bühne, die seit 2000 Jahren nichts anderes tut als Individuen zu produzieren, im Hier und Jetzt, in Echtzeit Authentisches generiert.
Das ist weit mehr als das romantische Spiel mit der Figur des Doppelgängers, das wir seit ETA Hoffmann oder EA Poe kennt – obwohl man auch hier bereits vehement erschrecken kann. Wenn unsere Außenhaut durchbrochen, unser Identitätskern gespalten, geschmolzen wird, geraten wir zurecht in Panik. Sein oder nicht sein? – jetzt sind wir Lichtjahre von Hamlet entfernt – jetzt geht es wirklich um unsere Existenz als Kollektiv, als Einzelwesen. Der Doppelgänger, der das Programm des Originals abspult, ist Krankheit und Heilung in einem. Zum einen die Perfektion dessen, das in Gestalt der Schizophrenie einen Menschen aus der Bahn wirft. Zum anderen eine Art bequemer Auslagerung von unbequemen Teilen. Der Melle Roboter resümiert leicht amüsiert: „Nach Teilen des Geistes, die ich in mein Buch ausgelagert habe, habe ich jetzt auch meinen Körper ausgelagert und ich kann ihn touren und alles Unangenehme erledigen lassen“.
Wenn es doch nur so, so einfach wäre. Man kann die Teile, aus denen sich unser mehr oder weniger wertvolles Ich zusammensetzt, plastifizieren und nachformen, zusammensetzten und auseinandernehmen, ihnen mit beachtlichem Aufwand Mimik, Gestik, Sprache beibringen. Der Golem, der dabei entsteht, mag mehr oder weniger überzeugend oder ähnlich, identisch oder fremd erscheinen. Fakt ist: wir bleiben dabei unwiederbringlich auf der Strecke – und es gibt keinen Stecker, den wir ziehen könnten: aus und vorbei. Anders als im romantischen Märchen gibt es kein heilsames Erwachen, denn längst sind wir zu Objekten eines Systems geworden, das wir erschaffen haben, nicht aber steuern können.
Dieser kleine, hochkonzentrierte Theaterabend, dieser Trip ins uncanny valley stellt in leichter, fast ironischer Tonlage zutiefst beunruhigende Fragen, die weiterführen als viele stirnzerfurchte Diskussionen hoch wissenschaftlicher Ethikkommissionen. Wer sind wir – und wenn ja wie viele… 2, 3, x hoch n? Und was wird aus unseren hoch heiligen Werten. Algorithmen? Und unser Bewusstsein, der Rettungsring an dem wir uns festklammern, unsere Haltung… etwas Plastikhaut und Styropor. Das ist dann in der Tat etwas uncanny.
"Unheimliches Tal / Uncanny Valley" - Eine Performance von Rimini Protkoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle. Inszenierung: Stefan Kaegi Noch am 14. Januar 2020 an den Münchner Kammerspielen. Weitere Termine unter: https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/unheimliches-tal-uncanny-valley